Michael Rutschky ist gestorben

Als ich heute früh lesen musste, dass Michael Rutschky gestorben ist, wollte ich es nicht glauben. Michael Rutschky kann nicht gestorben sein, dachte ich, nein, das darf nicht sein.

1979 hatte ich mein erstes Buch (den Roman Fermer) veröffentlicht. Kurze Zeit später las ich Rutschkys Erfahrungshunger, einen großen Essay über die achtziger Jahre. Ich war begeistert, von der Methode, vom Stil, vom Stoff. Rutschky erzählte fiktive Biografien von Menschen, deren Details er unter Zuhilfenahme von soziologischen oder philosophischen Theorien deutete. Der Trick bestand darin, die Theoriepartien ebenfalls in Erzählung aufzulösen und die beiden Erzählstränge (die der Lebenspraxis und die der Theorie) aufeinander zu beziehen und miteinander zu verknoten. Die Theorie konnte sich an der Lebenspraxis beweisen, wie umgekehrt die Lebenspraxis (offen, nach Deutung schreiend) die Theorie anzog, um erst ganz zu sich zu finden.

Über Erfahrungshunger schrieb ich eine meiner ersten längeren Rezensionen (für den Merkur, dessen Redakteur Rutschky einige Zeit war). Ich machte seine Bekanntschaft, besuchte ihn und wurde eingeladen, mich an einigen seiner im Suhrkamp-Verlag erscheinenden zeitdeuterischen Anthologien zu beteiligen. Mit ihm in seiner Wohnung zusammen zu sitzen oder in einer Stadt (München, später Berlin) unterwegs zu sein, war ein intellektueller Genuss, spannte er einen doch ohne Umstände in seine essayistischen Denkwege ein. Es bedurfte nur eines kleinen Details (einer Nachricht, einer biographischen Merkwürdigkeit) – und schon wurde dieses Detail, als wäre es Gegenstand einer literarischen Form von Psychoanalyse, auf seine Hintergründe hin befragt. Das ging nicht ohne Ironie und Humor ab, mit deren Hilfe sich Michael Rutschky den denkerischen Ernst vom Leib hielt. „Lebensromane“ zu studieren (geduldig, ohne fremd wirkendes Fachvokabular) – das war sein zentrales Thema, das er meisterhaft anging und variierte (so dass der Meister auch viele jüngere Schüler hatte).

Im Laufe der Jahre habe ich all seine Bücher, eins nach dem andern, gelesen, in meiner Bibliothek existiert eine Michael-Rutschky-Bücherschlange. Eines der letzten habe ich noch einmal besprochen und mich gefreut, als ich eine Mail von ihm erhielt. „Wann sehen wir uns? Melden Sie sich, wenn Sie in Berlin sind! Kommen Sie bald wieder vorbei!“

Nein, ich kann nicht glauben, dass Michael Rutschky gestorben ist.