Herta Müllers Wortbaukästen

Herta Müller berichtet im Vorwort zu ihrem neuen Buch Im Himmel ist ein blauer Saal (Carl Hanser Verlag 2019), dass ihr das Verschicken von Postkarten an gute Freunde irgendwann nicht mehr genügt habe. Damals seien ihr die Postkarten hässlich, bunt und aufdringlich vorgekommen. Sie habe sich als Ersatz weiße Karteikarten und einen Klebestift gekauft und mit einer kleinen Schere aus Zeitungen und Zeitschriften Fotos und Wörter ausgeschnitten. Aus ihnen habe sie kurze Texte gebildet, von nicht mehr als einer Karteikartenseite Länge (und Höhe).

Solche Texte folgen im neuen Buch dann auf das Vorwort, und man erkennt an ihnen den starken ästhetischen Reiz des Projekts. Die ausgeschnittenen Wörter und Fotos erscheinen wie Solitäre, die einen eigenen farbigen und typographischen Ausdruck haben, daneben aber auch eine Verbindung zu ihresgleichen eingehen. Zusammen bilden sie einen vibrierenden Wortraum, in dem das einzelne Wort auf sich aufmerksam macht und dadurch ein besonderes Gewicht hat.

Die Aneinanderreihung von vorgefundenen und „gepflückten“ Worten kann schließlich seltsame Sinnkombinationen ergeben, nahe dadaistischen oder auch surrealen Experimenten. Das aufgetane Wort erscheint in lauter unüblichen Kontexten und wird dadurch zu einer spielerischen Instanz.

Herta Müller berichtet in ihrem Vorwort weiter, dass sie inzwischen Schubladen und „Wörterschränkchen“ mit ihren Fundstücken besitze. Aus ihnen könne sie sich je nach Reiz und Laune bedienen.

Ihr Vorgehen erinnert mich daran, dass ich die Festlegung des Schriftstellers auf den bloß (mit der Hand/der Maschine etc.) geschriebenen Text immer als eine immense Einengung empfand. Seit ich schreibe, habe ich daher auch gekritzelt, Fotos und Texte eingeklebt und dabei unübliche Papierformate benutzt.

Für solche Projekte ist der zentrale Ort der schriftstellerischen Produktion, der Schreibtisch, zu klein. Papierarbeiten tendieren (mit vielen Stiften, Scheren, Papieren, Alben etc.) zum breiten Maler- oder Tapeziertisch. Damit öffnet sich die Zelle hin zum Atelier, in dem mehrere Arbeitsplätze in einem größeren Raumgefüge nebeneinander bestehen.

Sehnsucht des „Schreibers“: Die Raumfluchten eines Ateliers, eines Studios, eines ganzen Hauses …