Abdanken

Norbert, fast Sechzig, träumt davon, bald abzudanken. Seit er mitbekommen hat, dass Abdanken en vogue ist, möchte auch er seine Abdankung bald perfekt inszenieren. Alles begann, erinnert er sich, mit Papst Benedikt, dem vor ein paar Jahren so manches zu viel geworden war. Er verabschiedete sich auf Lateinisch, bestellte einen Hubschrauber und setzte sich zunächst einmal nach Castelgandolofo ab. Seit seiner Rückkehr nach Rom durchwandert er an der Seite von Privatsekretär Gänswein die vatikanischen Gärten, isst nur noch bayerische Kost und betrachtet Fotos aus seiner Kindheit.

Papst Benedikts Abgang wirkte wie ein epochaler Donner und sagte allen, denen so manches über den Kopf wuchs: Mensch, werde wesentlich! Kehre zurück zu Deinen eigentlichen Freuden und Bedürfnissen! Halte eine dunkle, schwer verständliche Abdankungsrede, mache Dich unsichtbar und wandere nach Deiner erneuten Menschwerdung in einem überschaubaren Paradiesgärtlein  in Ruhe auf und ab!

Jürgen Klinsmann hatte sich in Berlin verrannt, Kardinal Marx mochte keine weiteren Bischofskonferenzen mehr leiten, und Annegret Kramp-Karrenbauer hatte nicht mehr die geringste Lust, auf einen Provinzpolitiker wie Mike Mohring einzureden. Klinsmann will zurück zum Surfen an die kalifornischen Strände, Kardinal Marx möchte sich endlich ein Spiel von Bayern München ungestört anschauen, und Annegret Kramp-Karrenbauer zieht es wieder ins Saarland, wo sie eine Hälfte ihres umständlichen Doppelnachnamens ablegen wird, um endlich eleganter rüberzukommen.

Abdanken ist zu einer wunderbaren Überlebensstrategie für all die geworden, die ein zu großes Amt anstrebten, es unter Qualen innehatten und darüber unleidlich wurden. Jetzt, wo sie sich endlich von ihren Ämtern und Ängsten befreit haben, wandeln sie entspannt durch die Welt, lächeln vielsagend und schweben einfach nur über den Dingen.

Bald werde auch ich sowas von abdanken, sagt Norbert. Ich werde mitten im Innenhof unserer Firma eine Montgolfiere besteigen, davonfliegen und erst über einer Skihütte in den Alpen die Reißleine ziehen. Nach dreißig Tagen einsamer Klausur werde ich für immer in unser Reihenhäuschen einziehen und die Namen meiner Kinder auswendig lernen. Und dann setzen wir uns jeden Abend zusammen vors TV und schauen, wer es gerade wieder geschafft hat: Das große Abdanken.