Die Familie des Blogs (In Zeiten des Coronavirus 22)

Etwa seit Mitte Februar 2020 ist die Zahl der Nutzer dieses Blogs (laut Auskunft meines Verlages) noch einmal kontinuierlich gestiegen. Inzwischen lesen Zigtausend Menschen meine kleinen Texte täglich (mindestens zwei Minuten).

Das hat mich nicht nur überrascht, sondern auch den Glauben daran gestärkt, dass meine Beobachtungen und Reflexionen in diesen Zeiten nützlich oder sogar hilfreich sein können. Genau das bestätigen auch die vielen Rückmeldungen von Leserinnen und Lesern, die ich Tag für Tag erhalte (gegenwärtig sind es etwa fünfzig pro Tag).

Häufig erzählen sie von den Besonderheiten des gegenwärtigen Lebens, manchmal auch recht ausführlich. Wenn ich sie nacheinander lese, habe ich das Gefühl, Teil einer „Familie“ zu sein: der Familie des Blogs. Ihre Mitglieder kennen einander nicht, ihre Gemeinsamkeit besteht einzig darin, dass sie denselben Ansprechpartner suchen: den Schriftsteller O in seiner Gartenklause!

Wer oder was bin ich in dieser Rolle oder Funktion? Ein Seelsorger? Ein Beichtvater? Ein Therapeut? Ein asiatischer Mönch in seinem Meditationsraum?

Ich weiß, dass ich nicht allein bin. Ich habe gute Freundinnen und Freunde, die ich schon lange kenne und deren Texte ich immer wieder gelesen habe (Konfuzius/Marc Aurel/Bernhard von Clairvaux/Teresa von Avila/Ignatius von Loyola/Friedrich Nietzsche/Antonio Gramsci/Roland Barthes etc.etc.). Sie haben in sehr unterschiedlichen Welten gelebt und auf den ersten Blick wenig gemeinsam. Ich lese ihre Texte als Gespräche, die sie mit sich selbst führten und die unermüdlich und meditativ um die zentrale Frage kreisten, wie man leben solle und könne. (Einige werde ich noch gesondert in diesem Blog vorstellen…)

Die Rückmeldungen der Leserinnen und Leser dieses Blogs stellen ganz ähnliche Fragen. Ich lese sie mehrmals, und es kommt mir so vor, als befände ich mich im Fluchtpunkt eines vielstimmigen Romans. In alten Tagen hätte man das Ganze einen „Briefroman“ genannt und daran erinnert, dass die Schriftsteller der Romantik begonnen haben, mit solchen Romanformen zu experimentieren (so etwa Ludwig Tieck in seinem Roman William Lovell).

Dann erzählt nicht ein einzelner Erzähler, sondern es erzählen viele Erzählerinnen und Erzähler zugleich. Der Leser sitzt im Brennpunkt all dieser Geschichten und muss sich einen Reim auf ihren Zusammenhang machen. Er liest vor und zurück, er vergleicht die unterschiedlichsten Versionen, die verschiedene Erzähler von ein und derselben Geschichte entwerfen. So wird der Leser zum Regisseur eines großen Erzählreigens.

Leider kann ich nicht alle eingehenden Mails beantworten, das würde mich momentan überfordern. Deshalb danke ich vorerst sehr herzlich und freue mich über jede einzelne Nachricht. Wie es vielen Leserinnen und Lesern anscheinend guttut, mir zu schreiben, tut es mir gut, diese Texte zu lesen. So ist das eben in einer Familie…!