Die Geschichte meines Blogs Teil 1

(Ich habe einen längeren Artikel über „Die Geschichte meines Blogs“ geschrieben. Gestern ist er im Feuilleton der FAZ („Literarisches Leben“) erschienen. Hier im Blog veröffentliche ich ihn in zwei Teilen – heute und morgen.)

Vor dreieinhalb Jahren habe ich mit dem Bloggen begonnen, andere Blogs kannte ich damals nur flüchtig. Vorerst wusste ich nur, dass ich keinen thematischen, sondern einen kaleidoskopartigen Blog schreiben wollte. Mit verschiedenen Textsorten sowie unterschiedlichen Themen und Motiven, bezogen auf den jeweiligen Tag.

Ich suchte nach einer digitalen Form, mit der ich experimentieren konnte. Facebook, Twitter und Instagram gefielen mir wegen der gebotenen Kürze der Meldungen nicht, ich dachte an eine großflächigere Form. Keine intimen Mitteilungen oder Tagebuchartiges, sondern konzentrierte, persönliche Texte, geschrieben in dem Bewusstsein, dass sie von vielen Menschen gelesen wurden.

Das literarische Tagebuch war in analogen Zeiten ein Vorläufer, Max Frischs Tagebuch 1946-1949 hatte mir durch die sprunghafte Form seiner Aufzeichnungen gefallen. Der offene Raum einer Werkstatt, zu der die Leser Zutritt hatten! Schnappschüsse des Schriftstelleralltags, Reiseberichte, investigative Erkundungen im Nachkriegsdeutschland, Textproben geplanter größerer Arbeiten – und das alles als nachdenklich machendes, stark assoziatives Schreiblabor!

Mit dieser Orientierung fing ich an und berichtete von der Frankfurter Buchmesse, von Lesungen und Lektüren. Was tut und wie arbeitet ein Schriftsteller, wenn er nicht an einem größeren Werk sitzt? Solche Fragen hatte ich oft zu hören bekommen und glaubte daher, dass die Antworten manche Leser interessierten. Ich wollte sonst eher unterschätzte Arbeitsabläufe beleuchten und zum Nachdenken darüber anregen. Wann gelingen Lesungen besonders gut? Welche Bücher anderer Autorinnen und Autoren lese ich mit welchen Absichten und Ideen? Und was halte ich täglich in Kladden und Notizbüchern fest? All diese Fragen gehen den kreativen Randprozessen eines Schriftstellerlebens nach, das mit der Zeit seine eigenen Rituale entwickelt. Sie traten denn auch in den Blogeinträgen der ersten Zeit immer deutlicher in Erscheinung.

Womit ich jedoch nicht gerechnet hatte: Das Blogschreiben installierte in meinem Kopf eine Sonde! Vom frühen Morgen an war sie auf der Suche nach Motiven und Themen, die für den Blog geeignet wären. Und welche waren das? Auf jeden Fall aktuelle. Damit meinte ich keine Kommentare zu Politik & Gesellschaft, sondern Signale des Tages, die haften blieben und die ich selbst als überraschend empfand. Sie sollten sich frei und ungezwungen ergeben, aus heiterem Himmel, wie ich mir sagte. Außerdem sollten sie eng verbunden sein mit dem, was ich „meine private Ästhetik“ nannte. Ein Graupelschauer, ein Haiku in einem japanischen Taschenkalender, ein Fetzen Musik in der U-Bahn, eine Kreidenotiz an der Schiefertafel eines Münchner Lokals – das alles waren solche Signale! Dass es welche waren, bemerkte ich dadurch, dass sie sich nicht abschütteln ließen.

Ich notierte sie, so entstand eine Flotte von Ideen, aus der ich wählen konnte: Worüber schrieb ich heute? Was ließ sich auf morgen oder gar die nächste Woche verschieben? Die Sonde im Kopf arbeitete unermüdlich, als hätte ich die Aufgabe, das fortlaufende Tagesprogramm eines Senders zu erfinden. Heute eine konfuzianische Meditation, am nächsten Tag eine Schubert-Einspielung des Pianisten Arcadi Volodos, und die ganze folgende Woche ein zyklisches Siebentageprogramm: Seven days Walking!

Derart Besitz ergreifend hatte ich mir das Bloggen nicht vorgestellt. Wenn ich mit Freunden unterwegs war und ein Foto machte, bekam ich zu hören: Bestimmt für Deinen Blog, was? Danach versickerte der kreative Impuls meist sofort. Meine Signale legten Wert darauf, exklusiv, nur von mir, entdeckt und gespeichert zu werden. Ging ich arglos im Wald spazieren, lugten sie hinter jedem Baum hervor. Am schlimmsten aber war es im Garten. Jedes gerade erblühte Blümchen wollte fotografiert und betextet werden!

Hilfreich war, dass ich seit den Schultagen fast täglich etwas geschrieben hatte. Jahrelang hatte ich Chronik geführt: 6 Uhr aufgestanden, Pfefferminztee, Haferflocken mit Nüssen, auf dem Schulweg Peter getroffen, so in der Art. Das Bloggen erhöhte die Anforderungen jedoch erheblich. Längst arbeitete ich an einer auf viele Themen und Motive hin ausgeweiteten multiplen Chronik, erzählte Kalendergeschichten, berichtete von einem Kinobesuch oder einem Konzert oder fotografierte ein Pilzgericht in meinem italienischen Lieblingsrestaurant in Köln, samt gastrosophischer Analyse.

Mein Gott, stöhnte ich manchmal, ich habe auch noch Anderes zu tun! Der Blog war nicht dieser Meinung. Selbst nachts meldete er sich und ließ mich weiter notieren. Hatte ich nicht von einem Spaziergang ausgerechnet mit Fanny Ardant geträumt? Richtig, ja, aber passte der wirklich in meinen Blog? Solche Fragen berührten die Diskretion. Zu meinen Blogregeln gehörte, dass ich auf keinem Foto auftauchte und die fotografierte Umgebung nicht genau zu lokalisieren war. Ich war schließlich kein Instagram-Grufti, sondern ein Blogavantgardist. In der Antike wäre ich als bloggender Marc Aurel durch meine Provinzen geritten. In der Renaissance hätte ich als Francesco Petrarca aus meinem Studiolo gebloggt. Allmählich erkannte ich, wo ich weitere frühe Vorformen der Bloggerkunst zu suchen hatte: In Georg Christoph Lichtenbergs Sudelbüchern! In Friedrich Nietzsches Notizheften! In den Cahiers von Simone Weil!

So lebte ich hin, während sich mein reales Leben in ein Bloggerleben verwandelte…