Shortlist Deutscher Buchpreis 2023

 

Guten Morgen, 

das Börsenblatt hat gestern die Titel der sechs Bücher gemeldet, die in die Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2023 gekommen sind. Hier die Informationen (mit Begründungen der Jury):

https://www.boersenblatt.net/home/sechs-aus-zwanzig-die-shortlist-301897

Am 31.08.2023 hatte ich die Leserinnen und Leser dieses Blogs gebeten, ihre eigene Shortliste anhand eines schmalen, grauen, in den Buchhandlungen erhältlichen Büchleins zu entwerfen, in dem sich die Leseproben der zwanzig  in der Longlist nominierten Titel befinden.

Ich habe 52 Rückmeldungen erhalten, die ich ausgewertet habe. Daraus ergibt sich eine alternative Shortlist, die so aussieht (Der Roman von Terezia Mora wurde nicht berücksichtigt, da die Autorin den Deutschen Buchpreis bereits einmal erhalten hat.):

Tomer Dotan Dreyfus: Birobidschan/ Angelika Klüssendorf: Risse/ Angelika Overath: Unschärfen der Liebe/ Teresa Präauer: Kochen im falschen Jahrhundert/ Tonio Schachinger: Echtzeitalter/ Ulrike Sterblich: Drifter

Aus diesen sechs Titeln, liebe Leserinnen und Leser, sollten Sie nun jenen Titel auswählen, der unseren alternativen Deutschen Buchpreis 2023 erhalten soll. 

Nennen Sie mir diesen Titel bitte bis zum 15. Oktober 2023, Rückmeldung an:

ortheil.hannsjosef@gmail.com

Der japanische Taschenkalender für das Jahr 2024

Der meteorologische Herbstbeginn war am 1. September 2023, am 22. oder 23. September 2023 dagegen ist der astronomische. Wir stecken also bereits mitten drin in der dritten Jahreszeit und warten auf das Erscheinen der Tag-und-Nacht-Gleiche.

Genau das ist nun auch der passende Zeitraum, um die weiteren Monate des allmählich endenden Jahres 2023 und damit auch das kommende Jahr 2024 in den Blick zu nehmen. Intensiv erleben wir es, wenn wir ein Zeitbewusstsein entwickeln, das uns erlaubt, die jahreszeitlichen Rhythmen nicht nur zu verstehen, sondern auch emotional zu begleiten.

In kaum einer anderen Kultur geschieht das so tiefgehend wie in der japanischen – und zwar nicht nur in tradierten Formen, sondern auch aktuell, indem viele Menschen sich das Vergehen der großen Zyklen Tag für Tag vergegenwärtigen und durch die Lektüre von Texten sowie das eigene Schreiben darauf antworten.

Vorbildlich wirkt dabei die große Tradition der japanischen Haiku-Meister seit den Tagen von Matsuo Bashō (1644-1694) nach. Das Haiku ist die literarische Form einer pointierten Erregung, in der ein jahreszeitliches Detail mit einem Blick auf die Umgebung in eine schwebende Verbindung versetzt wird.

Stille ringsumher –

In die Felsen eindringend

Stimmen der Zikaden.

(Matsuo Bashō)

Der japanische Taschenkalender für das Jahr 2024 (DVB/Mainz) ermöglicht diese jahreszeitliche Begleitung durch 53 Haiku-Texte Bashōs und seiner Schule.  Viele der dreizeiligen, meditativen Gedichte werden durch den Japanologen Ekkehard May detailnah erläutert (unbedingt notwendig für das bessere Verständnis), und alte Tuschzeichnungen setzen die Texte mit den skizzierten Räumen ins Bild.

Texte, Kommentare und Bilder ergeben so eine harmonische Einheit und führen zu einer Reise, die durch die einzigartig schöne Aufmachung des leinengebundenen Bandes (Satz und Gestaltung: de Jong Typografie Essen!) auf ein hochästhetisches Niveau gehoben wird.

Als Freund der japanischen Kultur empfehle ich diesen Kalender besonders, ich werde ihn 2024 Tag für Tag benutzen und eigene Haikus erfinden und hineinschreiben.

Alles Tutti! – ein Kölle-Konzert besonderer Art

An zwei Abenden, denen des achtzehnten und neunzehnten August 2023, fanden auf dem Roncalliplatz in Köln, zu Füßen des Doms, zwei Konzerte statt, wie es sie in dieser Form und Zusammensetzung nur in Köln geben kann.

Die Kölner Kultband Brings und das Beethoven-Orchester Bonn unter der Leitung von Dirk Kaftan spielten zusammen vor zehntausend Zuhörerinnen und Zuhörern, viele (und auch das gehört zu Köln) „ergriffen“ und bei manchen Songs „mit Tränen in den Augen“: Alles tutti!

Und dabei geht es eben nicht um ein bloßes Neben- oder Nacheinander von Rock und Klassik, sondern darum, beide aufeinander zuzuführen und miteinander zu verbinden. Indem Oboe und Streicher des Orchesters sich in die Kölschen Hits der Band einmischen – oder indem der berühmte Ohrwurm-Walzer aus Schostakowitschs 2. Jazzsuite betextet wird.

Mit Willkumme in Kölle beginnen die beiden Abende, deren Mitschnitt der WDR (Fernsehen) heute ab 21.45 Uhr sendet!

Mit Brings, dem Beethoven-Orchester, den Kölschen Hits und Robert Schumanns „Rheinischer Symphonie“ verbunden, wünsche ich allen Leserinnen und Lesern dieses Blogs ein Kölle-inspiriertes Wochenende!

Die Neunziger Jahre von Jens Balzer

Ich mag Zeitreisen in vergangene Jahre oder Jahrzehnte, die ich selbst miterlebt habe. Jens Balzer ist Experte für dieses Genre, er hat schon Bücher über die Siebziger- und Achtzigerjahre geschrieben, jetzt sind die Neunziger dran.

Gelungene Zeitreisen rufen keine Daten oder sich wichtigtuerisch aufspielende historische Ereignisse ab, sie sezieren vielmehr das Lebensgefühl einer Epoche und denken darüber nach, wie und wodurch es entstanden ist. Woran erinnert man sich als erstes?

Natürlich an die deutsche Wiedervereinigung, die das Jahrzehnt so Glück verheißend eröffnete. Dann an „Techno“ als deren „Soundtrack“ und das bald einsetzende Aufkommen der neuen Rechten. Mobiltelefone führten zu einem „pausenlosen Telefonieren“, Amazon, Ebay und Google starten, und das „Internet wird zum Massenmedium“. Im TV laufen die Simpsons, und ein Minister streift die Turnschuhe über und begibt sich auf den langen „Weg zu sich selbst“.

Jens Balzers Buch ist gut zu lesen, es zieht einen hinein in die temporären Stoffe und entkleidet sie ihrer früheren momentanen Aufdringlichkeit. Sie haben sich in uns abgesetzt, und beim Lesen dieses Buchs, das wie ein panoramatischer Film wirkt, erwecken wir sie wieder zu einem zweiten Leben, indem wir die Zeichen und Signale am besten in kleiner Runde den Erinnerungsinseln der Gehirne zuführen. Und schon beginnen die Geschichten und wollen nicht mehr aufhören: „Weißt Du noch? Erinnerst Du Dich?“

  • Jens Balzer: No Limit. Die Neunziger – Das Jahrzehnt der Freiheit. Rowohlt Berlin 2023

Gespräche mit Hanna 2 – Venedig als Reiseziel

Liebe Leserinnen und Leser dieses Blogs, seit vielen Jahren arbeiten Hanna und ich zusammen. Sie organisiert Lesungen, ordnet die eingehende Post, bestellt Bücher, die ich im Blog vorstellen möchte, schlägt welche vor und unterhält sich mit mir über „Themen der Zeit“.

Sie ist in Köln geboren, wo sie auch einen großen Teil ihrer Kindheit verbracht hat. Irgendwann aber ist sie nach Stuttgart gezogen und hat an der HDM, der Hochschule der Medien, studiert.

Vor kurzem haben wir beschlossen, einige unserer Gespräche nicht für uns zu behalten, sondern in diesen Blog zu stellen. Nach einem ersten Gespräch über Pilze sprechen wir diesmal über „Venedig als Reiseziel“.

HB: Du bist gerade aus Venedig zurück. Fällt Dir die Gewöhnung an das deutsche Zuhause schwer?

HJO: Ja, die fällt mir wahrhaftig schwer. In Venedig zu wohnen, führt zu einer starken Intimität, die Abschiede haben etwas sehr Melancholisches, Trauriges, als trennte man sich von geliebten Menschen, die man nie mehr wiedersehen wird.

HB: Warum ist das im Fall von Venedig so?

HJO: Weil diese Stadt einen anders gefangen nimmt als andere Städte. Sie umschließt einen, man vergisst die Zeit und andere Orte oder Räume, man lebt nur noch in den sehr besonderen venezianischen Welten, das ist wohl so etwas wie Magie.

HB: Jetzt hat der Stadtrat beschlossen, eine Tagesgebühr von 5 Euro für jene Gäste zu erheben, die nur einen Tag bleiben. Das Stichwort heißt Overtourism. Selbst den Einheimischen ist der Tourismus inzwischen zu viel, sie wollen Entlastung.

HJO: Ich glaube nicht, dass fünf Euro abschreckend wirken. Wer Venedig unbedingt sehen will, zahlt bestimmt auch gerne fünf Euro. Das Problem steckt woanders. Man sollte erforschen, wie und wo sich die Touristenströme durch die Stadt bewegen. Es gibt Zonen, die sehr überfüllt sind, andere sind fast den ganzen Tag menschenleer. Und es gibt Zeiten, in denen kaum Gäste nach Venedig kommen, obwohl es ihnen in diesen Zeiten auf jeden Fall besser ginge als im Hochsommer, wenn die meisten in der Stadt unterwegs sind.

HB: Wodurch hat sich der Tourismus eigentlich so stark verändert? Es sind doch immer Menschen nach Venedig gefahren.

HJO: Ich denke, es gibt mehrere Gründe. Zum einen sind es die Billigflugangebote, zum anderen Angebote für Kreuzfahrttouren, die dazu verführen, „mal eben“ ein paar Schritte durch Venedig zu machen. Aber es gibt noch tiefer sitzende Veränderungen. Früher waren Städte durch ihre Sehenswürdigkeiten attraktiv, man fuhr mit einem Buch in der Hand hin und lernte sie durch einen Reiseführer kennen. Das war die typische Bildungsreise, die immer seltener geworden ist. Stattdessen gibt es heutzutage den digitalen Tourismus. Man läuft nicht mehr von Kirche zu Kirche oder von Museum zu Museum, sondern orientiert sich an den Angeboten, die einem im Netz rasch präsentiert werden. Ein Geschäft mit besonderen Accessoires, ein Restaurant mit besonderen Fischgerichten, ein Laden mit besonderen Mitbringseln, ein Shoppingcenter mit besonderer Kleidung. Aus den Sehenswürdigkeiten sind Hotspots der Waren und Attraktionen geworden, deren Erwerb den Kundinnen und Kunden schmeicheln. Hinzu kommen gerade im Fall von Venedig die fotografischen, digitalen Exzesse. Es gibt Touristen, die nahezu ununterbrochen fotografieren, keine Brücke, keine Straßenlaterne und erst recht keine Gondel ist vor ihnen sicher. Die Stadt überfällt einen mit Hinguckern, es gibt keine vergleichbare, die mit so vielen Bildern auftrumpft und zu Selfies einlädt.

HB: Du schlägst also vor, die Touristenströme zu entzerren, sie sowohl zeitlich wie auch räumlich zu kanalisieren, damit nicht alle immer dieselben Hotspots zu immer denselben Zeiten aufsuchen?

HJO: Ja – und noch mehr: Es gäbe eine große, pädagogische Aufgabe: Menschen auf ihren Venedig-Besuch vorzubereiten, damit sie auch wirklich etwas davon haben. Venedig ist eine sehr missverstandene Stadt. Viele lernen sie eher so kennen, wie es die bunten Bilder vorgemacht haben und halten sie dann für „morbide“ oder „romantisch“. Andere lernen die Einheimischen und ihren venezianischen Alltag überhaupt nicht kennen, als gäbe es nur schlecht singende Gondolieri oder arrogante Restaurantbesitzer. Venedig besteht aber aus vielen kleinen, für sich lebenden Parzellen und Inseln. Einige in Ruhe kennenzulernen, wäre ein guter Anfang. Die Umgebungen von San Marco meiden und stattdessen in einem der Sestieri am Rande wohnen und leben, in Castello zum Beispiel, dem Sestiere der Biennalen, über die wir noch gar nicht gesprochen haben. Es gibt eine Kunst-, eine Architektur-, eine Musik-, eine Tanz- und eine Filmbiennale – sie sind die Moderne Venedigs, die präsente Gegenwart der aktuellen Künste, der Widerpart zu ihren alten Gebäuden und Bildern.

HB: Du hast jetzt gerade die Filmbiennale erlebt, die auf dem Lido stattfand. Hast Du auch die laufende Architektur-Biennale besucht?

HJO: Ja, sie findet in den Giardini und im Arsenale statt. Da konnte man einen ganzen Tag in oft menschenleerem Gelände unterwegs sein.

HB: Im Ernst?

HJO: Im Ernst. Hier siehst Du einige Fotos der Ausstellungszonen des Arsenale.

Filmfestspiele Venedig 2023 – Rückblick

Nach der Preisverleihung am Samstagabend war ich überrascht, dass ich mit meinen Vorhersagen über preisverdächtige Filme gar nicht schlecht gelegen hatte. Poor Things erhielt den Goldenen Löwen und Io Capitano den Silbernen.

Vor allem aber freute es mich, dass der junge Hauptdarsteller dieses Films (Seydou Sarr, der einen Senegalesen auf seiner langen Flucht durch den Norden Afrikas nach Libyen und Sizilien spielt) den Preis für den besten jugendlichen Darsteller erhielt. Diesen Film sollte man sich anschauen, wenn er bald in die deutschen Kinos kommt.

Am besten gefallen hat mir jedoch der Film Evil Does Not Exist des japanischen Regisseurs Ryūsuke Hamaguchi (der mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet wurde). Er erzählt von einer noch unberührten Landschaft Japans, in der eine aus Tokio angereiste Gesellschaft ein Glamping-Zentrum plant, ohne sich um das Naturverständnis und die Einwände der Einheimischen zu kümmern. Auch diesen Film sollte man sich unbedingt anschauen.

Das Erlebnis eines Filmfestivals ist ein sehr besonderes, denn viele Filme nacheinander zu sehen, ist etwas ganz anderes als zu Hause mal eben ins Kino zu gehen und sich nur einen einzigen Film anzuschauen. Während eines Festivals sieht man einen Film dagegen immer auch als Wettbewerbsbeitrag und vergleicht ihn unaufhörlich mit den anderen Filmen.

Die Vergleichspunkte sind: Bildersprache, Kameraführung, Dramaturgie, Darstellerinnen und Darsteller, Musik – und (emotionaler) Gesamteindruck.

Ich kann mir vorstellen, dass ich die Filme, die ich in Venedig gesehen habe, ganz anders erlebe, wenn ich sie, isoliert von den anderen, zu Hause noch einmal im Kino sehe. Genau das werde ich tun. Ich bin (schon wieder…) gespannt.

(Über Venedig als Stadt der Filmfestspiele habe ich einen längeren Artikel geschrieben, der heute im „Kölner Stadt-Anzeiger“ mit dem Titel „Den Bildern verfallen“ auf Seite 20 erschienen ist.)

Filmfestspiele Venedig 2023 – Vor Ort 4

Heute Abend um 19 Uhr findet auf dem Lido die festliche Abschlussgala des ältesten Filmfestivals der Welt (seit 1932) statt. 23 Filme bewerben sich um den Goldenen Löwen und andere Preise.

Die Themenvielfalt war diesmal erstaunlich. Auffällig waren mehrere Filme, die sich mit der Biographie bekannter Personen beschäftigten –  wie etwa Maestro mit der von Leonard Bernstein, Ferrari mit der von Enzo Ferrari, Priscilla mit der von Elvis Presleys Frau Priscilla.

Aktuelle Themen der Zeit waren Flüchtlingsdramen – wie Io Capitano oder Green Border. Ginge es nach den Kritikern, würde Poor Things (von Giorgos Lanthimos) den Goldenen Löwen erhalten. Wir sind gespannt…

Filmfestspiele Venedig 2023 – Vor Ort 3

Einer der schönsten großen Paläste Venedigs am Canal Grande (Ca`Rezzonico) ist während langer Schließung restauriert worden und seit einigen Monaten wieder geöffnet. In ihm findet man das Urbild (oder die Ikone) der Filmfestspiele: Novo Mondo von Giandomenico Tiepolo. Entstanden ist das über fünf Meter breite Fresko um 1791, vor dem Untergang der alten Republik, deren Sitten es noch einmal auf ungewöhnliche und brillante Weise porträtiert.

Die Szene spielt im Carneval. Eine eilig herbeigelaufene Menschenmenge drängt sich in fiebriger Erwartung, etwas Besonderes gezeigt zu bekommen, vor einem Zelt, in dem eine Laterna magica Bilder einer exotischen (neuen) Welt entwirft. Die verstreute Gesellschaft besteht aus Menschen aller Stände und wird von einem Mann, der die Reihenfolge der Zuschauer zu ordnen versucht, angewiesen, sich nacheinander in das Zelt zu begeben.

Kurios und ungewöhnlich ist, dass der Betrachter des Bildes die Gestalten nur von hinten zu sehen bekommt. Ihre Mimik und ihr Gebaren bleiben verborgen, wichtiger ist dem Maler, Giandomenico Tiepolo, der zusammen mit seinem Vater Giambattista am rechten Bildrand in der distanzierten Haltung eines Beobachters zu erkennen ist, die Darstellung einer Ekstase des Sehens, die durch die neuartigen Medien ausgelöst wird.

Sie sind die Boten der Zukunft, die Venedig von seiner großen Vergangenheit trennen und verabschieden, um jenem Bilderreiz Platz zu machen, der später auf dem Lido Venedigs große Paläste für das bildersüchtige Filmpublikum benötigt.

So ist Novo mondo zu einem der vielsagendsten (und reizvollsten) Gemälde der venezianischen Malerei geworden. Es rekapituliert die Geschichte einer jahrhundertealten Gesellschaft, die sich dem Sehen seit ihren Anfängen wie keine andere verschrieben und dafür eine „Stadt auf dem Wasser“ erfunden hat. Ihre Bauten spiegeln jene Illusionen, die sich in den Scheinarchitekturen der Deckengemälde im Innern der Paläste kunstvoll wiederholen.

Filmfestspiele Venedig 2023 – Vor Ort 2

Ist eine Filmcrew im Hotel Excelsior auf dem Lido Venedigs eingetroffen, stehen ihr die Zeremonien der Präsentation ihres Films bevor. Von den Schauspielerinnen und Schauspielern bis zum Regisseur werden sich alle umkleiden und die Kleidung aufeinander abstimmen.

Dann werden sie sich hinüber zum Palazzo del Cinema begeben, wo die Filmenthusiasten vor der Aufführung des Films Fotos schießen und Autogramme erhalten. Dort wartet der rote Teppich. Die Crew wird sich zeigen, lächeln, winken, auf und ab gehen, bis sie vom Festivalleiter gebeten wird, den Palazzo über die Haupttreppe zu betreten. Im Innern wird sie reservierte Sitze im ersten Rang des großen Vorführungssaals einnehmen. Die Enthusiasten werden sie nun dort erwarten und frenetisch bejubeln.  Sie werden namentlich vorgestellt und nehmen Platz. Dann wird es langsam dunkel.

Nach der Vorstellung gibt es den mehr oder minder verdienten Applaus, dessen exakte Länge (wie viele Minuten?) von den Beobachtern und Kritikern genau konstatiert und später in den Presseberichten gemeldet wird. Kehrt endlich Ruhe ein, bewegen sich die Massen wieder nach draußen, wo sich viele in die zentrale Bar begeben und kalte Getränke, Snacks und allerhand Pipapo auf sie warten.

Hinter dem Bargelände jedoch wartet das Meer, unaufdringlich, glitzernd in metallischem Blau mit hellen Wellenspitzen.

Wer das Gelände gut kennt, wird Wege finden, sich von dem Präsentationszirkus zu befreien und eines der kleinen Camerini aufzusuchen, wo man sich für das Bad im Meer umkleiden, die Stille genießen und die Filmbilder im Innern Revue passieren lassen kann.

Filmfestspiele Venedig 2023 – Vor Ort 1

Die Filmfestspiele in Venedig finden auf dem Lido statt. Um 1900 ist er noch ein fast unbewohnter, karg besiedelter Landstreifen, auf dem in dieser Zeit die ersten großen Hotels entstehen – denn es lockt eine neue, elementare Erfahrung: Das Baden im Meer!

Sie zieht nicht nur die Einheimischen, sondern auch viele Fremde und Gäste an. Unter ihnen befindet sich der Schriftsteller Thomas Mann, den es nicht in die alte Stadt und zu ihren Sehenswürdigkeiten, sondern ans Meer und damit auf den Lido zieht. Schon 1911/1912 veröffentlicht er den späteren Klassiker dieser Erfahrung, die Erzählung Tod in Venedig, die der italienische Filmregisseur Luchino Visconti später verfilmen wird.

Eines der ersten großen Hotels auf dem Lido ist das Excelsior, in dem heute viele Schauspielerinnen und Schauspieler übernachten. Meine Fotografie zeigt den gewaltigen Bau im Hintergrund wie eine märchenhafte Fabelkulisse mit Kuppeldach vor der an Viscontis Filmszenen erinnernden Strandkulisse mit den typischen Camerini, in denen man sich als Badender „einrichten“ kann.

Die Gäste erreichen das Excelsior mit einem Wassertaxi, das den Lido von Venedig aus direkt anfährt und zum Hotel durch einen schmalen Kanal gelangt, der eine Wasserschneise in den Lido zieht.

Am Ende befindet sich, direkt vor dem Hotel, ein kleiner Bootshafen, in dem die Taxis stranden und von Horden von Fotografen empfangen werden. Bis weithin sind dann ihre Rufe zu hören: „Die Sonnenbrille abnehmen!“, „Bitte winken!“, „Drehen Sie sich nach rechts!“, „Schauen Sie her, nicht zur Seite!“