Auf kalten und leeren Bahnhöfen

Oberlokführer GW, eine der schrägsten Gestalten des öffentlichen Lebens, hat seine gigantische Fernsehtauglichkeit wieder unter Beweis gestellt und allen, die mit der Bahn reisen wollen, hinterrücks verkündet, wie man durchbremst, statt durchzustarten.

Das passt ungeheuer gut in diese schweren Zeiten, weil es allen Sorgenbeladenen noch einen zusätzlichen Packen Sorgen aufnötigt.

GW hat seinen Streik kurz vor dem Nikolaustag ausgeheckt und sich daran erinnert, dass es keinen Nikolaus ohne Knecht Ruprecht gibt. In Österreich verwandelt er sich in den Krampus, an dessen leicht sadistische Frechheiten sich viele Österreich-Reisende erinnern.

Auch GW hat sich daran erinnert und verpasst Millionen Reisenden vor dem zweiten Adventswochenende gezielte Hiebe, die sie kurz nach einem Wintereinbruch, der viele Strecken der Bahn tagelang lahmgelegt hat, mit besonderer Freude genießen.

GW freut sich darüber wie ein Kind und reibt sich die schweißnassen Hände, nächstes Jahr wird er sie in Unschuld waschen und zur Erleichterung aller Reisenden die bronzene Jim Knopf-Medaille für einen nachhaltigen Ruhestand im Traumland der Modelleisenbahnen entgegennehmen.

Nikolaustag

Der heutige Nikolaustag erinnert an das Leben des heiligen Nikolaus, der als Bischof von Myra (in der türkischen Provinz Antalya) den Legenden nach viel Gutes tat und sich besonders als Freund der Kinder und Notleidenden bewies.

Er starb um 345 n.Chr., seine Gebeine wurden 1087 in Myra geraubt und nach Bari gebracht, wo sie heute in der Basilika San S. Nicola in einem Sarkophag ruhen und von vielen Pilgerinnen und Pilgern verehrt werden.

Über diese Website kann man sich dem schönen Bau nähern und viele weitere Informationen erhalten (das Foto zeigt den adventlichen Mainzer Dom mit Weihnachtsmarkt):

https://www.basilicasannicola.it/

Martha-Saalfeld-Preis für Mariana Leky

Am kommenden Donnerstag, 07.12.2023, 19 Uhr, wird der Schriftstellerin Mariana Leky im Alten Kaufhaus von Landau der Martha-Saalfeld-Preis des Landes Rheinland-Pfalz verliehen. 

Aus diesem schönen Anlass werde ich im Rahmen der Preisverleihung, zu der ich alle Leserinnen und Leser dieses Blogs herzlich einlade, die Laudatio auf die Preisträgerin und ihren im Westerwald spielenden Roman „Was man von hier aus sehen kann“ halten.

https://www.landau.de/Verwaltung-Politik/Pressemitteilungen/Martha-Saalfeld-Preis-geht-in-diesem-Jahr-an-Autorin-Mariana-Leky.php?object=tx,2644.5.1&ModID=7&FID=2644.15374.1&NavID=2644.13&La=1

Johann Sebastian Bach im Advent

Morgen feiern wir den ersten Advent! Häufig gehörte Musik in den kommenden Wochen bis Weihnachten ist die von Johann Sebastian Bach. Zu seinen „wunderbaren Werken“ ist gerade in der Insel-Bücherei ein sehr lesenswertes Buch erschienen, das einen beim Hören begleiten könnte.

Michael Maul (geb. 1978 in Leipzig) ist Musikwissenschaftler, der sich seit Jahrzehnten der Musik des Leipziger Raums und vor allem der Johann Sebastian Bachs gewidmet hat. Dieses Buch ist die Summe seiner Forschungen, im Untertitel nennt er es „Eine Liebeserklärung an die Musik des Thomaskantors“.

Bach ist weltweit auf den Streaming-Plattformen präsent, seine Musik wird sogar häufiger gehört als die von Mozart oder Beethoven, was den bekannten Satz Maurizio Kagels bestätigt: „Nicht jeder Musiker glaubt an Gott, aber alle an Johann Sebastian Bach.“

Michael Maul weist in seinem Vorwort darauf hin, dass diese Präsenz Bach wohl erstaunen würde. Er verstand den Großteil seiner Musik nämlich als „gottesdienstliche Gebrauchsmusik“, für eine bestimmte Gemeinde und einen bestimmten Sonntag oder Feiertag komponiert. Heutzutage aber erreichen sie als „wunderbare Werke“ Menschen aller Kontinente und Religionen und strahlen eine Stärke und Gelassenheit aus, die in schwierigen Lebensphasen oft Kraft und Trost spendet.

Michael Mauls Führung durch das Gesamtwerk ist eine sehr persönliche und passionierte, die zum sofortigen Hören anstiftet. Damit das gelingt und der Funke gleich überspringt, ist dem Text auch ein QR-Code beigegeben, der über die an seinen Rändern zu findenden Nummern den direkten Musikzugang ermöglicht. Eine ideale Winter-Lektüre als Vor- oder Nachbereitung der großen Feste und des privaten Zusammenseins!

  • Michael Maul: J. S. Bach. „Wie wunderbar sind deine Werke“. Insel-Bücherei Nr. 1510

Das Schöne von Michael Köhlmeier

Der österreichische Schriftsteller Michael Köhlmeier (geb. 1949) hat Romane, Gedichte und Märchen veröffentlicht, er ist ein virtuoser Erzähler und beweist das auch in Fernsehsendungen, in denen er Stoffe der Weltliteratur lebendig und unkonventionell vorstellt.

Während der Lektüre dieses Buches glaubt man, ihn zu hören und zu sehen, wie er mit einem an einem Tisch sitzt und über Themen und Stoffe seines Lebens spricht. Sein Erzählen ist, wie der Untertitel verrät, voller Begeisterung, es ist eine Art Schwärmen, ohne Wenn und Aber.

Meist sind es Romane oder Erzählungen, die diesen schwärmerischen Ton auslösen, darunter viele, die man selbst schätzt oder liebt (wie etwa Hemingways „Der alte Mann und das Meer“), aber auch solche, von denen man eher selten gehört hat (wie etwa Franz Michael Felders „Aus meinem Leben“).

Daneben geht es um Musik oder um religiöse Texte, Michael Köhlmeier lässt sich treiben und sucht nach den versteckten Perlen, nach einzelnen Sätzen oder Metaphern, nach literarischen Figuren und seltsamen Lebensläufen, so dass man sich für die Dauer dieser entspannten Lektüren in einem Kabinett seiner Leidenschaften aufhält.

Das wirkt so anregend, dass man sich am liebsten selbst hinsetzen und im Freundeskreis so wie er beginnen möchte: „Es ist viele Jahr her, da hörte ich zum ersten Mal…“

  • Michael Köhlmeier: Das Schöne. 59 Begeisterungen. Hanser Verlag 2023

Fünfzig Wörter für Schnee

Die britische Dichterin und Autorin Nancy Campbell (geb. 1978) hat sich längere Zeit in Grönland und Island aufgehalten und darüber viele Texte geschrieben, die als Meisterstücke des Nature Writing gelten.

Auch Fünfzig Wörter für Schnee entstand nach einem Aufenthalt im Norden Islands, wo sie einige Winter verbrachte und in der Umgebung ihres Hauses mit hüfthohen Schneeverwehungen zu kämpfen hatte.

Die Arbeit mit der Schaufel ließ sie Beobachtungen machen, die auf Spuren des Schreibens führte: Schnee war nicht immer weiß und nicht immer still, er zeigte Abdrücke von Schlitten und Schneemobilen, und er legte sich auf Erdschichten, die in seinen Formationen Konturen hinterließen.

Nancy Campbell ging diesen Spuren nach und untersuchte zunächst die Sprache der Einheimischen mit dem Blick auf Wörter für Schnee. Daraus entwickelte sich die Idee dieses Buches: Schneeflocken auf ihren Wegen zu folgen, wie sie flüssig und zu Gas werden, wie sie auf afrikanische Gipfel fallen, schmelzen und verdunsten und später wieder gefrieren und auf Apfelhaine in Kaschmir regnen.

So ist ein weltumspannendes, faszinierendes Buch entstanden, das den Schnee und seine Flocken durch viele Sprachen verfolgt und von seinen Figuren und Gestalten erzählt.

  • Nancy Campbell: Fünfzig Wörter für Schnee. Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit. Hoffmann und Campe

Auf Lesereise 4

Seit 1979 bin ich auf Lesereisen, jedes Jahr, meist im Frühjahr und Herbst. Früher habe ich damit auch Reisen in Städte und Gegenden verbunden, die ich noch nicht besonders gut kannte. Dann bot die Lesung eine Gelegenheit zu einem ersten Kennenlernen, und ich konnte mir überlegen, ob ich wiederkommen wollte, um mir dies und das genauer anzuschauen.

Oft bin ich tagsüber in Kirchen, Museen und Galerien gegangen, und wenn es gut ausgestattete Bibliotheken gab, habe ich sie aufgesucht und in einem Lesesaal zumindest eine halbe Stunde Ruhe gefunden.

In Großstädten wie München, Hamburg oder Berlin entdeckte ich bei häufigeren Aufenthalten Räume und Orte, die mir besonders gefielen, weil ich mich in ihnen auf unkomplizierte Weise „zu Hause“ fühlte. Meist trugen zu diesem seltsam künstlichen Heimatgefühl bestimmte Reizmomente bei, die mir eine bestimmte Illusion vorgaukelten.

In Hamburg verschafft mir das Interieur des Restaurants Cox im Georgsviertel nahe dem Hauptbahnhof eine solche Illusion. Die schmalen Zweiertische mit roten Ledersitzen wirken besonders da einladend, wo sie eine kleine Flucht bilden, die zu den Fenstern und damit zur Straße (Lange Reihe) hinleitet. Ein wenig Paris schwingt in dieser Illusion mit, als wäre das Cox ein französisches Bistro im Jugendstil.

Meist bleibe ich an solchen Orten etwa zwei Stunden. Wo lebe ich während dieser Zeit? Nicht in Hamburg, sondern in Fantasien, in denen die Dinge, Menschen und Szenen von sich aus erzählen. Sollte ich ein Buch mit den kleinen Texten veröffentlichen, die an solchen Orten wie nebenbei entstehen? Und, wenn ja, wie sollte ich es nennen?

Liebe Leserinnen und Leser dieses Blogs, ich warte auf Ihre Vorschläge…

Vermeer – Reise ins Licht

Warum gehe ich seit einiger Zeit wieder häufiger ins Kino? Es tut gut, die Türen zu schließen, sich in eine leere Stuhlreihe ganz vorne zu setzen und den Blick auf die Leinwand zu fixieren. Die Bilder heften sich an das süchtige Auge und bleiben haften. Nichts sonst, die Welt draußen verschwindet, taucht langsam ab, meldet sich nochmal schwach in der Werbung für Kosmetik und Autoreifen und zieht sich dann kraftlos zurück.

So bei Vermeer – Reise in Licht, einem Dokumentarfilm, den ich bereits zum zweiten Mal gesehen habe. Er erzählt von der Amsterdamer Vermeer-Ausstellung und widmet sich den Inszenatoren der Show und damit den Ausstellungsmachern, den Kuratoren, den Angestellten im Rijksmuseum und den Personen, die sie befragen oder mit einbeziehen in ihre Überlegungen.

Wohltuend ist es, Menschen, die fast ausschließlich auf eine Sache (die Bilder Vermeers) konzentriert sind, genau dabei zu beobachten. Alle sind „Liebhaber“ dieser Bilder, aber eben auch Leute vom  Fach, die jedes nur verfügbare Mittel einsetzen, um den Geheimnissen und Malweisen Vermeers näher zu kommen.

Daher erkennen wir, wie die Bilder sich in Röntgenaufnahmen verwandeln und eine Camera obscura Licht ins Dunkel bringt, indem Versuche mit diesem Hilfsmittel der Malerei beweisen, wie Vermeer sehen lernte.

Ein Maler versucht sich an Kopien Vermeers und verwendet genau jene Stoffe und Materialien, die auch Vermeer benutzte. Ein unfassbar reicher Sammler reist an und nimmt seinen Vermeer-Besitz zum ersten Mal ungerahmt in die Hände, als habe man ihm eine fette Beute serviert.

Die zentrale Gestalt dieser kreisenden Untersuchungen ist Direktor Gregor Weber, der seine letzte große Ausstellung im Rijksmuseum vorbereitet und mit dem man als Zuschauer durch alle Ekstasen und Tiefen der Vorbereitung geht.

Ekstase entsteht, wenn er einen Nachbarn Vermeers ausfindig macht und entdeckt, wie Vermeer zur Camera obscura fand. Und eine dunkle, tief nachwirkende Enttäuschung baut sich auf, wenn eine Braunschweiger Museums-Direktorin „ihren Vermeer“ nicht hergeben will, weil das Bild einer kleinen Schar Braunschweiger Abiturienten als Thema für ihre Prüfungen dienen soll, anstatt in Amsterdam für kurze Zeit Hunderttausenden eine Freude zu machen.

Dramen entstehen, wenn Vermeers Bild Mädchen mit Flöte (ein Bild, in das man sich sofort verliebt!) angeblich nicht von Vermeer sein soll, weil ein Klecks hier zu dick aufgetragen ist und ein Strich dort nicht so sitzt, wie ihn die amerikanische Museumscrew gerne hätte.

Man folgt Gregor Weber die ganze Zeit, indem man seinem Mienenspiel folgt, das die Macher dieses meisterhaften Films (Regie: Susanne Raes/ Kamera: Victor Horstink/ Musik: Alex Simu) subtil und unaufdringlich eingefangen haben.

Einmal wird er gefragt, warum er sich Vermeer derart ausgeliefert und so viele Jahre mit seinen Bildern beschäftigt habe. Er überlegt und setzt mehrmals an, und dann gibt er auf und sagt lieber nichts, während man deutlich mitbekommt, dass ihn die innere Rührung davon abhält, auch noch dieses Geheimnis aufzudecken.

Wintereinbruch

Bei wolkenlosen Himmeln leuchten in der Nacht die zugefrorenen Pfützen im dämmrigen Mondlicht. Die Wiesen haben ein splittriges Weiß aus Rau und Reif angelegt und zeigen sich am Morgen wie frisch gekleidete, verschlossene Ebenen, die nicht betreten werden wollen.

Der Rauriser See hat an den Rändern flache Eispaletten gebildet, und am Kitzsteinhorn bei Salzburg sind schon in der Frühe Scharen von nervösen Skiläufern unterwegs und wedeln die Hänge hinab.

Beim Verlassen des Hauses schnappt einen die Kälte auf und jagt einen Schock durch Pullover und Mantel, die noch nicht die richtige Façon haben. Bis das letzte Blatt gefallen ist, denke ich an den Herbst und gebe nicht auf.

Es ist aber soweit, von Osten droht Schlimmes: Der Wintereinbruch, Stürme, Windböen und harsche Monturen! Weh dem, der jetzt aus welchen Gründen auch immer dorthin aufbrechen muss!

Und: Weh mir, der ich bald nach Berlin aufbreche!