Die mittelalterliche Domäne Marienburg (etwas außerhalb von Hildesheim) ist der schönste Universitätscampus Deutschlands. Früher fuhr ich in den Morgenstunden an dem kleinen Flüsschen Innerste durch die Felder entlang hinaus vor die Stadt und war gegen sieben Uhr als erster auf dem Gelände. Ich besaß einen Generalschlüssel und konnte (in der Rolle eines Hausmeisters) die alten Gebäude aufschließen. Ich öffnete die Fenster im Erdgeschoss, ließ frische Luft in die Seminarräume und beschallte die noch leeren Räume mit lauter Musik. Das gesamte Domänenensemble kam so zum Klingen, und ich ging von Haus zu Haus, schaute mich um, räumte hier und da etwas auf und geriet von Minute zu Minute mehr in Schwung. Gegen neun Uhr kamen die ersten Studentinnen und Studenten, und ich ließ meine morgendliche Emphase langsam abklingen. Den ganzen Tag über fanden Vorlesungen, Seminare, Übungen auf dem Gelände statt – aber abends (jetzt im Winter gegen neunzehn Uhr) leeren sich die Zimmer wieder, und ich trete erneut einen kleinen Rundgang an. In einer Institutsbibliothek sitzen noch zwei Studentinnen, über ihre Laptops und Bücher gebeugt. In einem Vorlesungssaal stehen noch ausführliche Texte, mit Kreide notiert, an einer Tafel. Und in einem Überaum der Musik spielt noch ein einsamer Saxophonist Stücke von Bach auf einem Instrument, für das diese Kompositionen gar nicht geschrieben wurden. Auch die Abendstimmungen haben eine große Schönheit – dieses Verklingen, Nachsummen, Zur-Ruhe-Kommen. Ich stelle mir vor, dass am Abend aus all den Klängen und Texten des Tages ein Sud entsteht: chorisch, polyphon, Finnegans Wake. Viele dieser Stimmen habe ich in den letzten Jahrzehnten heimlich notiert und aufgenommen. Irgendwann werde ich sie zum Konzert bitten.