Anekdoten (nach Heinrich von Kleist)

In den Jahren 1810/1811 hat Heinrich von Kleist eine fast täglich erscheinende Zeitung, die Berliner Abendblätter, herausgegeben. In ihr veröffentlichte er viele seiner Anekdoten, in denen er bereits vorliegende Nachrichten und Fakten mit Abgewandeltem oder dazu Erfundenem mischte. Manchmal stoße ich in den Kurznachrichten der Stuttgarter Zeitung auf Meldungen, die mich erstaunen oder zum Lachen bringen. Wenn das Vergnügen anhält, schreibe ich sie um – und es entstehen Anekdoten im Gestus und Ton des großen Heinrich von Kleist. Hier ein erstes Beispiel (und darunter eine Seite mit aus der Stuttgarter Zeitung ausgeschnittenen Nachrichten aus meinem Archiv):

Die Uhr

Ein älterer Mann in guter Laune wurde in der Landeshauptstadt Stuttgart während eines Rundgangs von einer Frau auf die Tageszeit angesprochen. Er streifte Mantel und Hemd zurück und gab den Blick auf eine mehrere tausend Euro werte Armbanduhr frei, von der er bedächtig die Zeit ablas. Die Frau war von diesem Anblick derart gefesselt und hingerissen, dass sie den älteren Flaneur heimlich verfolgte und diese Verfolgung schließlich in ihrem eigenen Wagen fortsetzte. Selbst viele Kilometer Fahrweg konnten sie nicht dazu bringen, die Verfolgung einzustellen, die sie erst vor dem Haus des Uhrenbesitzers beendete, indem sie seine Wagentür öffnete, ihn laut und dankend in einer fremden Sprache ansprach und ihm die Uhr von der Hand riss. Daraufhin verschwand sie mit dem teuren Schmuckstück, das sie in ihrer prekären Not in eine bekannte Dorfkirche brachte und im Opferstock unter lauten, um Hilfe rufenden Stoßgebeten versenkte.