Aegyo

Leider bekommen wir (wie erwartet) durch die sturen und (einfallslos kommentierten) Sportsendungen von ARD und ZDF nichts über die Kulturen Koreas mit. Es geht um erste, zweite oder achte Plätze – alles andere ist unseren Kommentatoren und Redakteuren egal. Aber auch in den Tages- und Wochenzeitungen taucht der große Komplex Korea nur sehr am Rand auf. Immerhin aber in der Neuen Zürcher Zeitung (vom 17.02.2018), in der uns Hoo Nam Seelmanns Artikel mit einer koreanischen Besonderheit bekannt macht: Aegyo meint eine bestimmte koreanische Verhaltensform, die bereits in der Kindheit im familiären Raum entwickelt und dann oft ein Leben lang beibehalten und verfeinert wird. Sie entsteht durch das enge, frühkindliche Zusammensein mit der Mutter. Das noch kleine Kind will sie durch „tanzen, singen, Küsse verteilen, umarmen, mit Händen ein Herz-Zeichen machen“ unbedingt für sich gewinnen. Aber auch noch viel später im Leben verhalten sich viele Koreanerinnen und Koreaner im privaten Rahmen „gewinnend“ und entwickeln solche gewinnenden Formen während der Entstehung von Liebesbeziehungen weiter: „Liebe heisst Nähe suchen, berühren, gemeinsam Dinge tun. Liebe ist auch umsorgen, besorgt sein, beschützen, beglücken“  – und damit etwas ganz anderes als die in europäischen Kulturen groß gewordenen Formen der „romantischen Liebe“: „Sich näher kommen heisst, man kommuniziert anders. Die formelle höfliche Art zu sprechen macht Platz für neckische Bemerkungen, man ruft an und scherzt. Die Körpersprache ändert sich mit. Ein feines Gefühl ist erforderlich, um zu wissen, wann man in dieses Werden der Liebe das aegyohafte Verhalten einfliessen lassen kann.“ Als ich das alles las, war ich erstaunt: Sollte mein Roman Liebesnähe von Formen der Aegyo geprägt sein, ohne dass ich davon gewusst hätte (geschweige denn in Korea gewesen wäre)?