In der Insel-Bücherei hat Kia Vahland einen schmalen Band (Anssichtssachen. Alte Bilder, neue Zeiten) veröffentlicht, in der sie sich als Meisterin des vielfältigen Blicks beweist. Will man ihr dabei folgen, so könnte man zunächst das in Farbe abgebildete Gemälde betrachten, um sich zu fragen: Welche Geschichte erzählt dieses Bild?
Kia Vahland hat solche Geschichten ausgewählt, die sich nicht nur auf ein Lebensmotiv konzentrieren, sondern auch geradezu aktuell erscheinen: Ein pubertierender Knabe lehnt sich selbstbewusst und bestimmt gegen seine Eltern auf; eine junge Wissenschaftlerin debattiert mit einem großen Kreis männlicher Gelehrter, die sich ihr anfänglich grundlos überlegen fühlen; ein älteres Ehepaar empfängt zwei Fremde mit selbstverständlicher Gastfreundschaft. Die Brücken zur Gegenwart wirken dabei wie Zündkerzen, die das jeweilige Bild kurz illuminieren. Plötzlich erkennt man, wie nahe das alte Bildmotiv einem Betrachter von heute sein könnte.
Ist der Blick derartig „entflammt“, folgt er allen wahrnehmbaren Spuren und Details mit detektivischer Genauigkeit: Mit welcher Haartracht hat sich der stolze, junge Dürer auf seinem Selbstbildnis geschmückt? Und warum ist am unteren Bildrand die große rechte Hand des Künstlers mit ausgestrecktem Zeigefinger zu sehen? Und wieso berühren die Finger die feinen Haare des Pelzrocks? Und worauf verweisen wiederum diese Haare (etwa auf die feinen Haare eines Pinsels, mit dem das Bild gemalt worden ist?)?
Solche Bildbetrachtungen können ungezwungene Übungen des genauen und inspirierten Sehens sein. Es macht ausgesprochen Freude, Kia Vahland bei ihren Deutungen zu folgen. Die meisten sind nicht länger als zwei Seiten und enthalten auf konzentrierte Weise soviel Material, dass man am Ende glaubt, einen ganzen Geschichtenzyklus gesehen und gelesen zu haben. Um danach so rasch wie möglich in eine Galerie/ein Museum etc. zu verschwinden und sich so locker und hellwach in Bilder zu vertiefen, wie Kia Vahland es gerade vorgemacht hat.