Das Lesetagebuch

In einem anregenden Gespräch mit Arno Widmann in der Berliner Zeitung (im Netz abrufbar) hat der Schriftsteller Wolf Wondratschek sich Leser gewünscht, die mit dem Bleistift lesen. Im Verlauf einer Romanlektüre sollen sie Sätze und Stellen anstreichen, bei denen sie innehalten und über die sie nachdenken. Der Ausstieg aus dem fortlaufenden Lesen hinterlasse Spuren, indem sich die angestrichenen Stellen einprägen und im Kopf des Lesers nachklingen.

Man könnte vom Leser aber noch viel mehr verlangen. Dabei denke ich an ein Lesetagebuch, in dem alle Lektüren in ihrem Verlauf notiert und ihre Reflexe in den Gedankengängen des Lesers fixiert werden. Eintragungen in ein solches Tagebuch würden mit den Lesezeiten und dem Ort der Lektüre beginnen und dann in bunter Reihenfolge jene Überlegungen (zu Figuren, zur Handlung, zum Raum etc.) aufzeichnen, die den Leser während einer Lektüre begleiten. So entstünde die „Geschichte einer Lektüre“, die sich in einem bestimmten Zeitraum entwickelt und weiterwirkt.

Das Lesetagebuch wäre ein eigenes Schreibformat (getrennt vom gelesenen Buch), das Auskunft über bestimmte Lektürephasen meines Lebens gibt. In ihnen habe ich mich mit vielen fremden Stimmen (und Klängen) beschäftigt, die genau zu charakterisierende Reaktionen hinterlassen haben. Diese Reaktionen könnte ich aber auch direkt ins gelesene Buch eintragen. Während ich lese, würden meine schriftlichen Aufzeichnungen den Text an den Rändern begleiten, in ihn eingreifen, ihn vielleicht sogar überdecken. Sie würden einen „Gegen- oder Ergänzungstext“ abbilden: den Text, den die Lektüre des Lesers angesichts eines vorgegebenen Textes aus freien Stücken schreibt.

Ist so etwas vorstellbar? – frage ich nun wiederum meine Leserinnen und Leser.