Das Lesetagebuch 2

Auf meinen Blogeintrag zum „Lesetagebuch“ habe ich viele Rückmeldungen erhalten. Erstaunt hat mich, wie bescheiden die Leserinnen und Leser ihre Rolle noch immer auslegen. Sie verstehen sich (wie in den alten Zeiten) als vorsichtig vorgehende Interpreten und Deuter, die sich den Vorgaben eines fremden Textes dienend widmen. Manche wagen es nicht einmal, in einem Buch etwas anzustreichen, geschweige denn, etwas hinein zu schreiben.

Einen so verhaltenen Umgang mit einem Text hatte Wolf Wondratschek in seinem Interview nicht vor Augen. Er zitierte Borges mit dem Satz, der Leser sei der eigentliche Schöpfer. Seine Aufgabe sei das exzessive Verstehen und Ausdeuten – und das in einem erheblichen Maß, besser als der Autor selbst es könne.

Radikalisiert man diesen Gedanken, so begegnet man einem Leser, der den Text eines Autors aufgreift und in Gedanken mit- und neu schreibt. Ginge es nach mir, würde ich den Deutschunterricht an unseren Schulen (der sowieso in allen Klassen um das „Kreative Schreiben“ erweitert werden müsste) durch Techniken eines solchen „Umschreibens“ bereichern. Lesen ohne Schreiben sollte es niemals geben. Das Schreiben ist die Praxis eines Lesens, das einen Fremdtext in sich aufnimmt und weiterspinnt.

(Ich empfehle dazu die Bücher von Alberto Manguel: Die verborgene Bibliothek/ Die Bibliothek bei Nacht/ A reading diary/ Eine Geschichte des Lesens)