Rembrandts Selbstbildnis als verlorener Sohn

Gestern habe ich die Leserinnen und Leser dieses Blogs auf die Spur eines berühmten Gemäldes geschickt. Eine Kopie dieses Meisterwerkes (in originaler Größe) befindet sich seit einiger Zeit in meinem Arbeitszimmer, kaum zwei Meter von meinem Schreibtisch entfernt. Mehrere Male am Tag entsteht ein enger Kontakt, ich blicke zufällig auf ein bestimmtes Detail (wie etwa das erhobene Glas oder den mit Federn geschmückten Hut des Mannes), oder ich vertiefe mich für einige Minuten in die Schattierungen des Hintergrunds.

Darüber, wie stark sich dieses Bild allmählich mit meinem Leben verbindet, erstaune ich immer mehr. Aus einem Gemälde wird ein Tableau vivant, als handelte es sich um zwei reale, atmende Personen, die mich (als dritte Figur der Szene) einladend anschauen. Dadurch verwandelt das Bild sich in eine Imagination, die sich (beinahe wie von selbst) weitererzählt. Längst verbinden sich ihre Komponenten daher zu einer Geschichte, die hintergründig auch mit dem Menschen zu tun hat, der mir dieses Bild einmal geschenkt hat. Er ist der Vierte im Bunde – ein geheimer Beobachter der Annäherungen, der ruhig mit anschaut, wohin die Reise so geht …

Es handelt sich (wie viele Leserinnen und Leser rasch entschlüsselt haben) um Rembrandts Selbstbildnis als verlorener Sohn, das in der Gemäldegalerie Alte Meister in Dresden hängt. In der biblischen Szene des verlorenen Sohnes, der sein Erbe in weiter Entfernung von zu Hause im Wirtshaus verprasst, hat Rembrandt auch sich selbst und seine Ehefrau Saskia porträtiert. Kam es ihm in der Erstfassung des Bildes mehr auf den biblischen Kontext an, so gab er dem Bild einige Jahre nach seiner Entstehung (1634) eine Zweitfassung. Die biblischen Anspielungen traten in den Hintergrund – und das Gemälde wurde zum Bild eines Paares, das, wie man so sagt, „zu leben versteht“ und zugleich eine tiefe Vertrautheit beweist.

Was aber hat diese Szene nun mit jener Person, die mir das Bild geschenkt hat, zu tun – und was mit mir? Diese beiden Fragen liegen der Geschichte zugrunde, die in meinem Kopf gerade entsteht …