Ginkgo biloba

(Heute auch als Kolumne im „Kölner Stadt-Anzeiger“, Seite 4)

Die schönsten Blätter des Herbstes sind die des Ginkgo-Baums. Sie fallen nicht zu Boden, sondern segeln langsam und unauffällig auf die Erde, wo sie einen dichten Teppich bilden. Anders als andere Herbstblätter kräuseln sie sich nicht, sondern bleiben überwiegend plan, glatt und wie poliert. Nach einem dunklen Grün im Sommer haben sie hell- und schließlich abendsonnengelbe Fächer gebildet, bis ein verhaltenes Braun ihr Verwesen ankündet. Jeder, der sie zufällig betrachtet, merkt auf: Woher kommen sie? Wo sind sie zu Hause? Sie kommen von weither, aus China und Japan, wo sie noch heute (wie sofort zu ahnen) als Tempelbäume verehrt werden.

Ihre eigenartige Form hat die Dichter und Denker schon immer beschäftigt. Jedes Blatt erscheint geteilt, in der Mitte eingeritzt, als bestünde es aus zwei einzelnen Blättern, die aus mysteriösen Gründen zusammengefunden haben. Yin und Yang? Als auch Goethe auf diesen Baum aufmerksam wurde, ließ ihn der Anblick seiner Blätter nicht mehr los. 1815 soll er während eines Frankfurt-Aufenthaltes zumindest einen Ginkgo gesehen und studiert haben. Der Eindruck, den der Baum auf ihn machte, war so stark, dass er noch in demselben Jahr auch in Weimar einen pflanzen ließ.

„Dieses Baums Blatt, der von Osten/Meinem Garten anvertraut,/Giebt geheimen Sinn zu kosten,/Wie’s den Wissenden erbaut.“ – so die erste Strophe seines Gedichtes Gingo biloba, das er noch in Frankfurt schrieb und einer erheblich jüngeren Freundin (Marianne von Willemer) widmete. Der wissende Goethe legte sich das Rätsel des Ginkgo-Blattes als Anspielung auf eine Paaridee aus. Als „Eins und doppelt“ erschien es ihm – und damit als Symbol einer Freundschaft, die sich (wie es stattliche Ginkgo-Bäume tun) vertiefen und alt werden könnte. Manche Ginkgos erreichen sogar ein Alter von tausend Jahren. Goethes Gedicht hat es nun immerhin auf über zweihundert gebracht.