Die erste, sich über einen langen Zeitraum hinziehende Arbeitsphase des Material- und Ideensammelns für einen Roman schlägt sich in vielen Notiz- und Skizzenbüchern nieder. Im idealen Fall präpariert sie einige Figuren, eine (zumindest geahnte) Handlung/Geschichte, einen Raum sowie einen zeitlichen Verlauf.
Erscheinen mir Figuren und Räume einigermaßen präsent, gehe ich auf Reisen. Ich fahre genau dorthin, wo der Roman spielt. Fast immer handelt es sich dabei um Orte und Räume, die ich bereits seit langem gut kenne und in denen ich mich schon viele Male aufgehalten habe. Kennenlernen muss ich sie also nicht mehr, nein, es geht um etwas Anderes: Ich erlebe sie von neuem, aber nicht mit eigenen Augen, sondern mit denen meiner Romanfiguren.
Diese Metamorphose geht oft soweit, dass ich mich ähnlich kleide und verhalte wie sie. Ich lege sogar Notizbücher an, in die ich nicht mehr notiere, was mir selbst so alles auffällt, sondern ausschließlich das, was einer bestimmten Romanfigur auffallen könnte. So übernehme ich Romanidentitäten, die ich manchmal sogar im Alltag durchspiele. (Ich gebe mir den Namen einer Figur, ich übernehme ihre Biografie.)
Ich vermute, dass nicht viele Romanautoren so vorgehen und ich mit dem seltsamen Spleen, die Fiktion in der Wirklichkeit zu testen, ziemlich allein dastehe. Manchmal ereilt mich in solchen Zeiten die Versuchung, meine Verwandlung in eine Romanfigur selbst zum Inhalt eines Romans zu machen. (Schriftsteller O reist nach X und bezieht unter falschem Namen – dem einer seiner Romanfiguren – ein Zimmer in einem Hotel… usw.) Soweit ist es bisher aber noch nicht gekommen.
Die Metamorphose hat auch weniger den Sinn, die Handlung/Geschichte zu profilieren als vielmehr die, Räume und Orte mit fremdem, neugierigem Auge anders und neu zu erleben. Ich lasse mich fallen, ich trenne mich von meinem codierten Blick, ich gebe mich der Sinnlichkeit und den Atmosphären um mich herum in der größtmöglichen Freiheit hin.