Klavierstunde 1

Wer in einen pianistischen Konzertabend geht, erlebt ihn vor allem als Hörer oder Zuhörer. Die Wahrnehmung ortet den Klangcharakter, den damit verbundenen jeweiligen „Ausdruck“ der einzelnen Phrasen und die sich im Klangverlauf entwickelnde „Folge geweckter Emotionen“.

Die wenigsten Hörer oder Zuhörer aber sehen einen Pianisten spielen. Wer das tut, nimmt die Physis des Spielens wahr, die körperliche Aktion, die Zusammenarbeit ganz unterschiedlicher Kräfte, die ein akzentuiertes Spiel erst ermöglichen.

Deshalb lade ich zu einer kurzen Klavierstunde ein, indem ich Vladimir Horowitz dabei beobachte, wie er während seines Wiener Klavierabends im Jahr 1987 das Impromptu Nr. 3 in ges-dur von Franz Schubert spielt (auf Youtube leicht zu finden).

Erstaunlicherweise liegen beide Hände nebeneinander sehr flach auf den Tasten, die Finger nicht gekrümmt, sondern so weit wie möglich gestreckt. Der Anschlag erfolgt über den vordersten Teil der Fingerspitzen, die so wenig Aufwand wie möglich betreiben. Sie touchieren die Tasten und bewegen sich fast unmerklich in ihre Ausgangsstellung zurück. Die Unterarme auf gleicher Höhe wie die Hände und Finger – diese Dreiheit ergibt eine Linie der Reduktion, die sich von den Armen über die Hände bis zu den Fingern verfolgen lässt.

Das aufrechte Sitzen des Rumpfs folgt dieser Erstarrung. Er bewegt sich in keinem Moment, selbst das Mienenspiel des Gesichts ist fast nicht vorhanden. Schuberts Impromptu wird auf diese Weise weniger gespielt, inszeniert oder vorgetragen, sondern: Die Musik kommt Takt für Takt zum Erscheinen, wie von selbst, als spielte der Flügel und habe den Spielenden verhext oder in Trance versetzt.

Kein anderer Pianist hat je so medial dieses Impromptu von Schubert gespielt und dadurch erkennen lassen, welche Musik Schubert da eigentlich komponiert hat: Die eines Abwesenden, Einsamen, der nichts so scheut wie die direkte Berührung, den Eifer, die Teilhabe an den lauten Liedern der Welt.

Entzug könnte man die Physis dieser Jahrhunderteinspielung nennen. Eine fast körperlose Statuarik begleitet eine Psychologie des Alleinseins.