Mein Film

Der japanische Philosoph Isaku Yanaihara war sechsunddreißig Jahre alt, als er 1955 dem Bildhauer Alberto Giacometti in Paris begegnete. Yanaihara hatte sich mit französischer Kunst der Gegenwart und der Philosophie des Existentialismus beschäftigt, Werke von Albert Camus übersetzt und die intellektuellen Klimaumschwünge in Paris aus der Nähe studiert. Dazu hatte ein Stipendium beigetragen, das ihn für einige Zeit in der französischen Metropole wohnen und arbeiten ließ.

Einen entscheidenden Impuls erhielt er in dieser Zeit zunächst durch Gespräche, die er mit Giacometti führte. Die beiden müssen sich von Anfang an sehr gut verstanden haben, denn die spontan empfundene Nähe erhielt schon bald eine Struktur: Giacometti begann, den Freund zu porträtieren. Tag für Tag saß er von da an stundenlang in dessen kleinem Studio, aufrecht, oft mit Jacke und Krawatte, das blasse, breite Gesicht den Blicken des Künstlers aussetzend.

Mit der Zeit entstand eine Arbeits- und Lebenssituation, wie es sie in dieser Strenge nur selten gegeben hat. Giacometti hörte nicht auf, Yanaihara zu porträtieren, und Yanaihara geriet dadurch in den Bann einer Werkentstehung, aus der auch er sich nicht zu lösen vermochte. Immer wieder schob er die geplante Rückreise nach Japan auf und ging schließlich sogar eine Liaison mit der dritten Person im Bunde, mit Giacomettis Frau Annette, ein.

In den folgenden Jahren hat Yanaihara zweihundertachtundzwanzig Mal für Giacometti Modell gesessen. Nach den Sitzungen war man oft zu zweit oder zu dritt bis in die Nacht in Paris unterwegs. Hatte man sich getrennt, machte sich Yanaihara Notizen über die Tag- und Nachtgespräche, aus denen später ein Buch entstand. Seit kurzem liegt dieses wunderbare Zeugnis einer Lebensgemeinschaft auch in erstmaliger deutscher Übersetzung vor (Isaku Yanaihara: Mit Alberto Giacometti. Aus dem Japanischen übertragen und mit einem Beitrag versehen von Nora Bierich. Piet Meyer Verlag AG, Bern/Wien 2018).

Drei Menschen, verstrickt in einen fortlaufenden, sich immer wieder zuspitzenden und neu strukturierenden Werkprozess, die Metropole Paris als Anschauungsbühne für ihre Blicke und Themen, die dadurch ausgelöste Verwandlung der künstlerischen Praxis in eine erotische – das wären die Motive und Themen für einen Film, den ich Bild für Bild vor Augen habe.

Ich würde das Drehbuch schreiben und Regie führen – und ich würde ein serielles Kammerspiel inszenieren, in dem drei Menschen aus ganz unterschiedlichen Kulturen (und geprägt von sehr unterschiedlichen „Begabungen“) aneinandergeraten und nicht mehr voneinander lassen. Mein Gott, wäre das ein Film!!