Siebzig Jahre Grundgesetz

„Die Würde des Menschen ist unantastbar“ – so Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes. Viele Kommentatoren haben in diesen Tagen anlässlich seines siebzigjährigen Bestehens den ersten, einleitenden Satz zitiert. Was für ein stolzer, starker Anfang! Ist es nicht der schönste Satz des Grundgesetzes, von dem sich alle weiteren Schritte ableiten lassen?

Ja, beim ersten Hören und Lesen erliegt man diesem kraftvollen Vokabular. Liest man den Satz dann aber langsamer, führt das zu einigen Irritationen. Warum zum Beispiel ist das anscheinend höchste Gut etwas so zweifelhaft Unbestimmtes wie „die Würde“? Mit „Würde“ verbindet man normalerweise einen anerkannten sozialen Rang. Das aber ist wohl nicht gemeint, sondern eher eine Integrität, die es zu bewahren gilt. Warum dann aber „Würde“? Ist nicht eher „das Ansehen“ gemeint, das sich nicht vom sozialen Rang herleitet, sondern von einem inneren Gut?

Und was genau meint die Festlegung, dass die Würde „unantastbar“ sei? Sowohl „Würde“ wie „unantastbar“ sind Worte, die im heutigen Sprachgebrauch kaum noch vorkommen. Sie wirken wie althergebrachte Formeln, denen es an präzisen Erweiterungen fehlt. Ist „die Würde“ überhaupt etwas, das man „antasten“ kann? Und ist „Antastbares“ nicht eher etwas Konkretes, das man in die Hände nimmt oder zu dem man direkten körperlichen Kontakt herstellt?

Nun gut, lesen und hören wir das Ganze noch einmal anders: Der erste Satz des Grundgesetzes hat eine Beethovenschen Wucht: pathetisch, triumphal, aber auch etwas abstrakt. Wie das Fortissimo-Eröffnungsmotiv der fünften Symphonie! Und wie geht es bei Beethoven weiter? Er wiederholt das kurze Motiv und lässt es (leiser) kreisen und wandern. Plötzlich erhält der zunächst offene, statische Raum auch kleine Flächen, die aufschimmern und sich bewegen.

Und wie geht es nach dem ersten Hauptmotiv des Grundgesetzes weiter? „(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. (2) Das deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.“

Die Würde des Menschen (sein Ansehen, seine Integrität) geht allem voraus. Ihre Achtung und ihr Schutz sind erste Aufgabe des Staates. Von ihr leiten sich die unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte her, an die sich die Gemeinschaft des deutschen Volkes gebunden fühlt. Um zu Frieden und Gerechtigkeit in der Welt beizutragen. (So in etwa.)

Das abstrakte Anfangsmotiv erhält seine „Durchführung“. Und die hat es wahrhaftig in sich!