In Zeiten des Coronavirus 3

(Heute auch als Kolumne im Kölner Stadt-Anzeiger, S.4)

Hanna, 25 Jahre, schreibt an ihrer Examensarbeit über „Psychogeografien“. Das Thema ist gerade sehr in, der hellwachere Teil der Jugend redet häufig darüber. In Deutschland kam es lange Zeit nicht an, es hat seine Ursprünge in London und Paris und damit in jenen europäischen Weltstädten, in denen man sich seit den Tagen der legendären Flaneure des neunzehnten Jahrhunderts für die Bewegungen der Menschen auf den Straßen und Plätzen interessiert.

In welchen Terrains sind Frauen oder Männer Tag für Tag in ihrem Alltag unterwegs? Welche Zonen ihrer Umgebung erleben sie als abstoßend/warm/offen/beengt/ überlaufen/erotisch? Wie reagieren sie darauf? Wann suchen sie entfernteres Gelände auf? Zu welchen Tageszeiten? Mit wem? Das wären typische Fragen der Psychogeografie an die stereotyp aussehenden Pläne einer Stadt. Die Antworten würden Aussagen darüber erlauben, wie Menschen diese Pläne emotional lesen und mit Hilfe dieser Stadtlektüren ihre eigenen Kartografien entwickeln.

Spaziergänge mit Hanna durch Köln sind ungemein interessant und lebendig. Sie hat Augen für lauter Details, für den Bodenbelag, die Häuserfassaden, die Inschriften, die Werbung, ja für all jene nur scheinbaren „Belanglosigkeiten“, die der italienische Stadttheoretiker Vittorio Lampugnani gerade in einem eigenen Buch als „bedeutsame, kleine Dinge im Stadtraum“ bezeichnet hat.

Hanna hat dabei in den letzten Wochen eine überraschende Entdeckung gemacht. Während die Menschen früher beinahe blind durch die Straßen strömten und keine besondere Notiz von ihren Details nahmen, werden sie in Zeiten des Coronavirus zu extrem aufmerksamen Psychogeografen. Jede Zusammenballung von Passanten an einer Ampel lässt sie ausweichen und langsamer werden, jedes Husten aufhorchen und innehalten. Seit neustem nehmen sie Zickzackwege von Bürgersteig zu Bürgersteig, tänzeln zwischen parkenden Autos umher und suchen nach einsamen Ruhezonen genau dort, wo stachlige Rosen den Zugang erschweren.

Die Stadt ist so zu einem weiten Gelände der angstbesetzten Erregungen geworden, wodurch viele Details eine Aufmerksamkeit erfahren, die man ihnen früher nie geschenkt hatte. Hanna wittert dadurch eine große Chance: Dass sich die Bürger in Zukunft mehr als zuvor für Stadtplanung interessieren und sie selbst aktiv mitgestalten. Dass sie Vorschläge für die Umgestaltung von Straßen und Plätzen machen, dass sie selbst untersuchen, welche Widerstände ihnen täglich begegnen und wie sie sich vermeiden ließen.

Erster Schritt auf dem Weg dorthin: Hanna begleitet Bürger mit einer Videokamera durch die Umgebungen ihrer Wohnhäuser. Sie filmt, die Menschen reden, erzählen, kommen mit anderen ins Gespräch. So verwandeln sich die Theorien der Psychogeografie in konkrete Praxis, und die irreal wirkenden Corona-Zeiten erhalten ein positiveres, zweites Gesicht.

(Die aztekische Inselstadt Tenochtitlan – Azteken-Ausstellung Stuttgart)