(Als Kolumne am 27. Juni 2020 im „Kölner Stadt-Anzeiger, S. 4)
Nach kaum einer Stunde Zugfahrt von Köln auf das Land erlebe ich sehr erstaunt, dass die Lockerungen des Lockdown dort noch nicht angekommen sind. Die Bewohner der Ortschaften passieren die Gassen und Winkel sogar noch auf dem Motorrad mit Mundschutz, und selbst Rehe und Füchse, die sich bis nah vor die Haustür trauen, tragen ihn gehorsam. Warnungen wie die des Bonner Obervirologen Hendrick Streeck, dass stundenlang über Mund oder Kinn getragener Mundschutz eine besondere Gefahrenquelle darstellt, kommen gar nicht erst an.
Vergisst man als einsamer Restaurantgast, die Sabberkappe auf den Marathonpfaden zur Toilette hin anzulegen, rufen einem die strengen Kellnerinnen ein „Mundschutz! Aber dalli!“ hinterher. Dabei sind die Restaurants und Kneipen weitgehend leer, und sogar die wenigen Spaziergänger auf den Feldern gehen einander aus dem Weg und fliehen im Annäherungsfall mitsamt ihren Begleithunden auf den nächsten Hochsitz.
Angst und Vorsicht sind viel spürbarer als in den größeren Städten, und die Coronathemen werden kleinteilig und intensiv besprochen. Sollte man noch vor einem Lokal rauchen, wenn der Rauch tausende Aerosole bis in die nächste Hochfrisur pustet? Sind die im Chor ihrer Abteikirche betenden Mönche ein gemeinsamer Haushalt – oder warum dürfen sie laut miteinander singen, Gläubige in Gottesdiensten aber nicht? Ist die auf den Speisekarten der Dönerstuben gesetzte „Pizza Förster“ wegen ihres dreiteiligen Salami-, Peperoni- und Olivenbelags besonders gefährlich, da der Belag aus drei verschiedenen Ländern kommt?
Noch nie hat man sich über solche Themen so lange den Kopf zerbrochen und jedes Detail diskutiert. Die meisten Gesprächspartner haben sich in Virologen und Ökonomen verwandelt und warten mit einem Internetwissen auf, das einen sprachlos macht. Handwerkszeug wie Hammer und Zange sollte zum Beispiel angeblich nach jedem Gebrauch desinfiziert werden, da der angesetzte Schmutz sich unter Sonneneinwirkung vermehrt und virenbesoffene Insekten anzieht. Elektromobile mit drei Rädern sind preiswerter als E-Bikes und absetzbar, wenn der Käufer älter als Fünfundsechzig ist und sich wegen Corona nicht zu Fuß durch die Straßen bewegen möchte. Und, der Gipfel: China und die USA haben sich auf besonders heimtückische Weise verbündet, um den Dritten Weltkrieg anzuzetteln, der die Bewohner dieser Länder nach seinem Ende ins All bringen wird. Genau deshalb wurde nämlich die Raumfahrt gerade frisch aktiviert, denn nur im All werden die letzten Chinesen und Amerikaner später noch leben, um neue Zivilisationen ad infinitum zu gründen.
Die letzte Rettung vor so vielen kruden Ideen und Fantasien sind noch immer die Buchhandlungen. Hier treffen die Robinson Crusoe-Leser auf die Freunde von Boccaccios Decamerone – und die alten Stichworte „Inseldasein“ und „Seuche“ wirken noch immer wie historische Signale: Es gab einmal Geschichte, und Menschen haben sie gemacht, und die Zeiten, in denen sie ihre Welten mit viel Scharfsinn und Klugheit gestalteten, nannte man einmal große Epochen.