Der Finger im Buch

Ulrich Johannes Schneider (* 1956) ist heute Bibliotheksdirektor an der Universität Leipzig. Irgendwann muss er eine interessante, weitreichende Beobachtung gemacht haben: Auf vielen Porträts lesender Menschen gibt es die Geste eines Fingers, der in einem Buch steckt und dort genau die Stelle markiert, wo die Lektüre unterbrochen wurde und nach kurzer Unterbrechung wieder aufgenommen werden sollte.

Der Finger im Buch ist das Signal einer Lektürepause, über deren jeweilige Gestaltung Schneider in seinem Buch Der Finger im Buch (Piet Meyer Verlag) daraufhin nachgedacht hat. Worüber ließ sich da nachdenken?

Zum Beispiel darüber, was das Bild über den Charakter der Lektürepause und damit auch über das jeweilige Lesen verrät. Schneider hat aus seinen Bild- und Skulpturbeispielen lesender Menschen eine Galerie entworfen, die solche Lektürecharaktere skizziert: Das Lesen, das sich einem Text hingibt/ sich entführen lässt/ auf Veränderung des eigenen Lebens wartet/ Bildung ernten/ Sprachen hören will.

Schneider filtert diese Gestalten der Lektüre durch ein genaues Studium der Bilder und Skulturen aus dem Porträt heraus und widmet sich dann den dargestellten Personen: Ihrem Aussehen, ihrer Kleidung, ihrer Gestik, dem sozialen Raum, den sie beleben und ausschnittweise mit darstellen.

Die beiden Pfade des Nachdenkens – Analyse des Lektürecharakters und Studium einer Gestalt im Blick auf das Milieu ihrer Umgebung – werden schließlich abgeglichen und in Verbindung gebracht: Kann man Lektüreerfahrungen bestimmten sozialen Milieus zuordnen? Und umgekehrt: Wie liest die vermögende Vizegräfin von Vaudreuil im späten achtzehnten Jahrhundert (auf einem Bild von Élisabeth Louise Vigée Le Brun) anders als der Mönch Alonso Enriquez in der Mitte des siebzehnten Jahrhunders (auf einem Bild von Juan Bautista Maíno)? Beide Personen figurieren einen geschlossenen Lektüreraum, in dem die gelesenen Texte wie Accessoires von Empfinden und Wissen erscheinen.

Daraus ist ein äußerst anregendes Buch geworden. Geschrieben in einem zupackenden und geduldig den Details nachspürenden Gestus, ohne den Firlefanz eines Fachvokabulars.

Solche Bücher liebe ich. In ihnen lese ich immer nur ein Kapitel – das aber zweimal, dreimal. In Schneiders Buch sind es zehn, die durch eine Galerie von dreißig Abbildungen von Kunstwerken führen. So erlebe ich ekstatisches, kluges Sehen – verwirklicht in einem auch herstellerisch beeindruckenden Buch, das ich niemals nur in einer öffentlichen Bibliothek lesen würde, sondern unbedingt auch zu Hause in meiner Nähe haben muss.

(Textidee: Wäre nicht die Frage interessant, welche Bücher in dieser Nähe um mich herum jeweils existieren und weiterleben? Ihre Nennung ergäbe vielleicht eine vielsagende Liste…)

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