Die Geschichte meines Blogs Teil 2

(Ich habe einen längeren Artikel über „Die Geschichte meines Blogs“ geschrieben. Vorgestern ist er im Feuilleton der FAZ („Literarisches Leben“) erschienen. Hier im Blog veröffentliche ich ihn in zwei Teilen – gestern Teil 1 und heute Teil 2.)

So lebte ich hin, während sich mein reales Leben in ein Bloggerleben verwandelte…

An den schriftlichen Reaktionen der Leser konnte ich erkennen, wie angetan sie waren. Sie erreichten mich ausschließlich als namentlich gezeichnete Mails, deren Ausführlichkeit mich erstaunte. Interessant daran war, dass oft nur eine Nebenbemerkung die Leserreaktion ausgelöst hatte. Ein Detail hatte den Funken überspringen lassen und eine Erzählung oder einen Bericht in Fahrt gebracht. Mit jedem Satz entfernte sich die Mail weiter von ihrem Anlass und verwandelte sich auf beinahe unheimliche Weise in biografische Prosa.

Oft fragte ich mich nach dem Grund dieser Verwandlungen. Was hatten die biografischen Mitteilungen mit den Texten zu tun, die ich in den Blog gestellt hatte? Sie antworteten, bezogen sich aber kaum darauf. In Wahrheit erzählten viele Leser auch nicht mir, sondern eher sich selbst, was anscheinend lange in ihrem Kopf geschlummert hatte. Niemand hatte diesen Poesiestau abgerufen oder erbeten. Hatte ich das denn getan? Anscheinend ja. Aber wodurch?

Ich las die Lesertexte genauer und verglich sie. Viele enthielten kleine Formeln der Vertraulichkeit, als wären wir miteinander befreundet oder bekannt. Mit der Zeit häuften sich solche Zeichen, bis sie deutlicher wurden. Dann wurde ich eingeladen, zu einem Kaffee, einem Glas Sekt, einer mehrstündigen Mahlzeit oder einem langen Spaziergang. Dabei hatte ich nicht den Eindruck, dass man meine Bekanntschaft suchte. Nein, das war es nicht, denn wir kannten uns ja längst durch unser gemeinsames Dasein, es ging also um mehr!

Anscheinend bildete der Blog einen geschützten Raum, in dem wir, jeweils zu zweit, unter uns waren. Anders als bei Facebook, Instagram oder Twitter waren die Rückmeldungen von Nutzern nicht öffentlich zu verfolgen. Meine Blogtexte inspirierten vielmehr eine Art vertrauliches Dating. Der Blog strahlte aus, und die Lesertexte strahlten zurück! Ich erhielt Buch- und Musiktipps und verfolgte oft sprachlos und fasziniert, auf welchen Nebenwegen diese Tipps auf die Terrains bezogen waren, die ich früher „meine private Ästhetik“ genannt hatte. Man hielt mich für einen Spaziergänger mit Ausdauer, also waren diätetische Mahlzeiten und Fußsalben mit Kamille-Lotionen eine gute Empfehlung! Ich war begeistert von Daniil Trifonow und seinem Liszt-Spiel? In Köln-Lindenthal wartete ein Bösendorfer-Flügel auf mich, auf dem ich Liszt hätte spielen können! Die Leserin besaß diesen Flügel seit über dreißig Jahren, schon als siebenjähriges Kind hatte sie auf ihm geübt, sich aber erst als Zwanzigjährige an Liszt versucht…usw.

Nach einiger Zeit befand ich mich in einem mitreißenden Mahlstrom, mit Tausenden von Leserinnen und Lesern auf weiter Fahrt. Längst belieferte ich sie täglich und registrierte Glücksgefühle, wenn ich solche Reaktionen zu lesen bekam: Jeden Tag freue ich mich auf Ihre Texte! Ich lese sie noch vor dem Frühstück. Allen Hinweisen gehe ich nach. Ich lebe mit Ihnen, hören Sie bitte nicht auf! Nachforschungen ergaben, dass die meisten Leser in Berlin lebten, danach kamen Köln, Hamburg, Stuttgart und München! Zahlreiche Leser gab es auch in der Schweiz und in Österreich. Aber ich lernte auch Leserinnen auf Long Islands oder den Philippinen kennen. Sie schickten Fotos ihrer Wohnungen und Gärten, erzählten von ihren Kindern und spielten mir Kompositionen von Scarlatti auf dem Klavier vor.

Zu zweit fuhren wir im Medium des Blogs nach Paris und aßen im Freien vor dem Wohnhaus von Marguerite Duras. An meinem Geburtstag streiften wir durch Athen, empfingen Ehrengäste auf der Akropolis und feierten nachts in der ältesten Taverne der Stadt. In Venedig waren wir mit Hemingway unterwegs und tranken jede halbe Stunde einen anderen Drink, bis mein bloggendes Unterbewusstsein zumindest für ein paar nächtliche Stunden kapitulierte.

Der Hintergrund dieser Reisen waren laufende Buchprojekte, die ich höchstens andeutete. Damit ließ sich mein Blog jedoch auf die Dauer nicht füllen. Ich brauchte inspirativen Stoff in großen Rationen – und das täglich! Vier Tageszeitungen im Printformat hatte ich abonniert, dazu noch zwei weitere in digitaler Version. Drei Wochenzeitungen kamen hinzu, dazu Zeitschriften, die auf mich einen unerklärlichen Reiz ausübten: Vogue, Harper‘s Bazaar, Frieze, Monopol, Eisenbahn-Landwirt! Die Newsletter der Verlage boten eine besonders ergiebige Nahrung. So bestellte ich alle Neuerscheinungen, die in irgendeiner Verbindung zu den Themen des Blogs standen und in ihm vorgestellt wurden.

Artikel mit erkennbaren Blogsignalen schnitt ich aus und klebte sie in DINA3-Alben. Texte und Fotos aus dem Netz wurden ebenfalls ausgedruckt und eingeklebt. Ich legte ein Notizheft mit Verweisen in Form eines Themen- und Motivregisters an und kam mir vor wie der Herausgeber einer kostbaren und exquisiten Fachzeitschrift. Sie bestand aus meinen Blogeinträgen, im Untergrund aber gärte das in großen Mengen gesammelte Material, das anschwoll und lianengleiche Verbindungen zum Blog einging.

Wohin damit? Nur für mich behalten wollte ich es nicht, dazu war der Blog als Schreibprojekt zu interessant. Gab es dafür einen öffentlichen Ausstellungsraum?! In meinen Träumen dachte ich daran, Blog und Blogmaterialien in einem Museum oder einer Galerie als eigenständige, neue Kunstform digital und analog zu präsentieren. Vorerst ergab sich das leider nicht, also musste ich selbst aktiv werden. Ich mietete einen leer stehenden Laden in meinem westerwäldischen Heimatort, ließ ihn renovieren und installierte alte Möbel aus den Lebzeiten meiner Eltern. Hinzu kamen Fotografien und Vitrinen mit meinen Schreibgeräten seit den Kindertagen. Ich nannte ihn Sala Ortheil und dachte an öffentliche Führungen durch die Schreibwälder des Blogs.

Am Tag der Eröffnung warteten Scharen von oft weit angereisten Menschen. Endlich waren wir nicht mehr nur virtuell, sondern auch analog miteinander verbunden! Die Sala war Studiolo und Ausstellungsraum, vor allem aber eine Praxis des Blogs! In ihr fanden Begegnungen mit Leserinnen und Lesern statt, die sich dafür anmeldeten. Das Bloggen hatte einen realen Raum mit unzähligen Dokumenten entworfen, die gesehen, besprochen und vor Ort erlebt wurden. Lesungen im Kulturwerk der westerwäldischen Stadt vertieften die Treffen.

So schloss sich der Kreis, und ich segelte schneller als der Wind auf dem weiten Ozean des Blogs. Zu Beginn der Coronazeiten explodierten die Nutzerzahlen noch einmal. Zigtausende lasen ihn nun täglich für die Dauer von mindestens zwei Minuten. Über hundert Leserreaktionen gab es pro Woche, einzeln beantworten konnte ich sie nicht mehr. Meine Blogeinträge wurden länger und länger, schließlich enthielten sie sogar Vorschläge für die Tagesgestaltung. Wie könnte man einen Coronavormittag zu Hause oder im Freien verbringen? Wie mit Kindern? Youtube-Videos mit Konzert- und Filmausschnitten ergänzten meine Texte und waren Anregungen zum Hören von klassischer Musik und Jazz.

Im Herbst wird mein Blog vier Jahre alt. Dann enthält er weit über tausend Einträge. Ich werde mit meinen Leserinnen und Lesern ein großes digitales und analoges Fest feiern. Zum Schluss wird es einen Wettbewerb geben. Wer hat alle Einträge des Blogs mehrmals gelesen, so dass sich jedes Detail eingeprägt hat? Eine Masterfrage zur Erlangung des Bloggerpreises 2020 könnte sein: Von welchem deutschen Fussball-Nationalspieler wurde Hanns-Josef Ortheil in der Feinkostabteilung von Harrods in London auf ein Kölsch in einem Kölner Brauhaus eingeladen? Die Antwort weiß, natürlich, mein Blog.