Die Venezianer

Die Venezianer sind müde. Bei vielen reicht die Kraft nicht einmal mehr, den ewigen Mundschutz zu tragen. Sie lassen ihn flattern oder wischen ihn, wenn sie reden, mit den Händen beiseite.

Reden. Endlich wieder lange und an jedem Eck reden. Stehenbleiben und reden – und den Profumo der Mauern tief in sich einsaugen, bis er sich in den matten Körpern verliert, die so lange in der Stille der Wohnungen eingetopft waren.

Darf man an Kleidung auch draußen tragen, was man sonst im Haus trägt – was meinst Du, Paola? Darf man singen, Musik machen? Was sollte man kochen, was essen? Wo einkaufen? Ist die Wassermelone des Händlers nahe dem Ufer unverdächtig?

Ein paar erste Touristen schreiten die Gassen ab und lesen sich aus bebilderten Führern vor, welche Bilder sie sehen. Amerikaner, Engländer, Franzosen. Die Deutschen haben oft Brezeln aus der Heimat dabei, sagt Paola. Dutzendweise Brezeln, mit etwas Salz, das sie als weiße Spur auf dem Pflaster hinterlassen. Wenn die Brezeln aufgezehrt sind, reisen sie ab.

Die Vaporetti fahren regelmäßig, beinahe wie früher. Motortaxis noch nicht.

In den Kirchenbänken sind die vorgeschriebenen Abstände markiert. Betet noch jemand laut? Höchstens ein geflüstertes Aufsagen von Gebeten ist möglich, ein Wispern und Virenwegbeten zum Beispiel in der alten Kirche am blendendhellen Rialto. Die Brücke scheint sich wie nie zuvor von Ufer zu Ufer zu biegen. Früher streckte sie sich, reckte den Buckel, jetzt stemmt sie die Flanken zitternd gen Boden.

Die Biennale-Gärten sind noch gesperrt. Wer laufen und joggen will, den treibt es hinaus nach Sant’Elena, immer am Ufer entlang.

An den Haltestellen der Vaporetti drängen sich die Menschen in kleinen Scharen. Kein lautes Sprechen, aber alle auf Tuchfühlung, als suchten sie Wärme und Nähe. So stehen sie da – wie Körperinseln im Sonnenlicht, als stimmten sie gleich das Lied des Gefangenenchors aus Nabucco an: Va, pensiero, sull’ali dorate…

So geht man dahin. Und plötzlich: die schreiendschmale Öffnung der wuchernden dunklen Bäume. Und in der Ferne das leise Rauschen der Fähre, wie bestellt für eine Fahrt in die Freiheit.