Der souveräne Leser

Das gerade bei Wagenbach erschienene Buch des britischen Schriftstellers Alan Bennett Der souveräne Leser liebe ich aus vielerlei Gründen: Zunächst, weil es ein Buch über das Lesen, dann, weil es ein Buch mit vielen Tagebucheintragungen – und schließlich, weil es ein Buch von Alan Bennett ist, der sowieso einer meiner Lieblingsautoren ist.

In Der souveräne Leser liest er nicht einfach so vor sich hin und in sich hinein, sondern zeigt seinen Leserinnen und Lesern, wie er liest. Er tut dies nicht als typischer Rezensent oder gar Kritiker, sondern als Schriftsteller, der keinem Kanon und keinen Vorgaben, sondern einfach nur seinen zufälligen Neugierden und Vorlieben folgt, die er sich selbst nicht genau erklären kann. Und warum das alles?

Bennett möchte sich über seine Lektüregedanken und –empfindungen klarwerden. Deshalb verpackt er sie nicht in gelehrte Essays oder staubtrockene Artikel, sondern vor allem in muntere, spontan wirkende Aufzeichnungen seines Tagebuchs. Man sieht ihn geradezu lesen, auf und ab gehen, um eine Straßenecke biegen, in ein Café gehen – und das alles mit Lektüren im Kopf oder auch in der Hand.

Virtuos beherrscht Bennett dabei die Kunst, Lektüreerlebnisse unkompliziert, nackt und direkt darzustellen, ohne Fachvokabular und ohne das übliche, oft ablenkende Drumherum (von Einordnung, biografischen Details, Stilzuweisungen etc.). So lockt er einen in Welten, in denen das Lesen endlich wieder ein reines Vergnügen ist und nicht die Eintrichterungspraxis von „Interpretationen“, mit denen uns die Schule lange genug vergeblich gequält hat.

Franz Kafka ist jener Schriftsteller, den Bennetts Texte am häufigsten umkreisen. Er kommt ihm so nahe, dass man glaubt, er habe ihn jeden Morgen in seine Prager Arbeiter-Unfallversicherungs-Anstalt begleitet und nach getanem Bürodienst wieder von dort abgeholt, um mit ihm einen Kaffee zu trinken.

Kaffee? Kaffee mit Kafka? Oder nicht doch eher Tee?! Nein, Tee bestimmt nicht. Bier?! Aber nein! Wein?! Auch nicht?! Aber was denn zum Teufel, was konnte und wollte man mit Kafka trinken?! Schwierige Frage, die bereits tief in sein Werk hineinführt und vorerst unbeantwortet bleibt.

Genaueres weiß Bennett aber über das Wohnen: „Kafka hätte nie so geschrieben, wie er schrieb, wenn er in einem Haus gewohnt hätte. Er schreibt wie ein Mensch, der sein Leben in Wohnungen verbracht hat, mit Aufzügen, Treppenhäusern, dumpfen Stimmen hinter geschlossenen Türen und Geräuschen, die durch Wände dringen. Steckte man ihn in eine hübsche, freistehende Villa, hätte er nie ein Wort geschrieben.“

Na?! Ist das nicht fabelhaft?! Und fallen einem nicht auf der Stelle weitere eigene Klugheiten ein – über Kafka als Schwimmer, als Badenden, als Lauschenden, als Gehenden? Damit man seinen Lektüren näherkommt, sollte man Bennett lesen, sofort, es ist ein heftiger, großer Genuß.

(Alan Bennett: Der souveräne Leser. Aus dem Englischen von Ingo Herzke. Verlag Klaus Wagenbach Berlin 2020)