Italienische Momente

Mein neues Buch Italienische Momente (btb) ist heute erschienen. Aus diesem Anlass habe ich für einige deutsche Zeitungen einen Artikel über die Entstehung meiner Italien-Bindungen geschrieben. Hier ist er:

Vor fünfzig Jahren bin ich zum ersten Mal nach Italien gereist. Ich hatte das Abitur am Mainzer Rabanus Maurus-Gymnasium hinter mir und fuhr nach Rom, um mich dort um ein pianistisches Stipendium am berühmten Conservatorio zu bewerben. Damals sprach ich noch kein Wort Italienisch, ich hoffte, mit meinem Schulenglisch durchzukommen, doch das erwies sich schon in meiner ersten römischen Nacht, in der ich bis zum Morgengrauen durch die Ewige Stadt lief, als Illusion. Die Römer, denen ich in vielen kleinen Bars bei einem Caffè oder Drink begegnete, sprachen höchstens ein paar Brocken Englisch und wechselten danach rasch wieder ins Italienische.

Nicht nur die Sprache war aber dominant, sondern auch alles, was einen umgab, war voller italienischer Symbole und Zeichen: Die Gebäude, Straßen, Plätze, ja, selbst die Speisen waren ausschließlich italienisch. Ausländische Lokale konnte man lange suchen, niemand schien sich dafür zu interessieren. Stattdessen kreisten die vielen Unterhaltungen um die Nuancen der italienischen Küche: Wo gab es die beste Pasta, wo das frischste Gemüse, wo den freundlichsten Wirt?

Freundlichkeit schien überhaupt das höchste Gebot zu sein: Den Gast so zu empfangen, als habe man seit Wochen gerade auf ihn gewartet, ihm Komplimente zu machen, ihn nach seinen Sonderwünschen zu befragen. Schon bald erkannte ich, dass die italienische Gastronomie eine Art Urbild der italienischen Lebensformen war. Während einer gemeinsamen Mahlzeit mit Freunden ging es um ein paar Stunden des Glücks, um das Vergessen von Problemen und Sorgen, um gut gelaunte Konversation, um die neusten Geschichten vom Leben der Nächsten.

Diese geradezu närrische Freude an Gesprächen und Unterhaltungen kannte ich bis dahin nicht. Sie zeigte sich schon am frühen Morgen, wenn man den ersten Cappuccino in seiner Lieblingsbar trank, und sie setzte sich den ganzen Tag bis in die Nacht fort. Immer, wenn ich mit Italienern in Kontakt kam (und wie leicht war das möglich!), begann das Gespräch wie eine Erzählung: Ecco!, heute hätte ich fast verschlafen, zum Glück hat mich mein Nachbar geweckt, gegen Sieben hat er bei offenem Fenster gesungen, gegen Sieben, stell Dir das vor!

Mit so einem Erzählfragment ging es los – und wehe, man verpasste den Einstieg und hatte keine eigene Geschichte auf Lager! Dann war man langweilig oder ideenlos und wurde allein zurückgelassen. Stattdessen ging es darum, das richtige Maß zu finden: Bitte keine ausführlichen Monologe, bitte aufmerksames Zuhören bei den klangvollen Soli der anderen und bitte eine einfallsreiche Erwiderung, am besten als eine Variation des gerade Gehörten: Ah, ja, manchmal singe ich auch bei offenem Fenster und merke es dann selbst nicht, der Gesang bricht einfach so aus mir heraus, und seltsam – meist sind es Opernarien, obwohl ich noch nie in einem Opernhaus war!

Die Oper konnte nur in Italien erfunden werden. Sie ist die Übersetzung des unermüdlichen Erzählens und Berichtens in die extremste Form der Mitteilung: Den leidenschaftlichen, eruptiven Gesang! Zwei oder drei Personen entwerfen eine hoch emotionale Szene, und aus dem Hintergrund raunt irgendwann dazu der Chor der Vielen. Der Chor – das ist das Bild der Gemeinschaft, die mitreden und alles kommentieren will, denn alles Gesagte will besprochen, fortgeführt und von allen nur erdenklichen Seiten betrachtet werden. Niemand darf und möchte allein sein – das lernte ich schnell, und so wurde mein erster römischer Aufenthalt zu einer Schule der Konversation: Mit so vielen Römern wie möglich über möglichst viele Themen zu sprechen.

Nach einiger Zeit begegnete ich immer denselben Menschen, die sich bis auf die Minute genau an bestimmten Orten einfanden. Viele Male am Tag betraten sie eine kleine Bar und nahmen immer denselben Platz an der Theke ein. Ein solcher Aufenthalt dauerte meist eine halbe Stunde, dann verschwanden sie, um zwei Stunden später wieder an eben demselben Platz zu stehen. Hatte man einander etwas besser kennengelernt, wurde man bei jeder Begegnung umarmt. Kannte man einander sehr gut, wurde man auf beide Wangen geküsst. Hatte man schließlich sogar Freundschaft geschlossen, wurde man zu einem Drink eingeladen und hatte die Einladung danach unverzüglich zu erwidern.

Ich lernte begreifen, wie stark das italienische Leben von solchen, seit Jahrhunderten tradierten, stark familiären Ritualen bestimmt wird. Mit ihrer Hilfe gibt man dem Leben eine Struktur, einen Verlauf und entwirft es als einen Lebensroman, der aus lauter kleinen Geschichten besteht. Das Erzählen wiederum wird von allen Seiten gespiegelt: Italien ist nicht nur das Land der Oper, sondern auch das der Malerei, der Architektur, des Films und nicht zuletzt der Mode. All diese Künste setzen das private, im öffentlichen Raum inszenierte Erzählen fort, porträtieren es in typischen Gestalten und Figuren und entwerfen lauter Lebensszenen, deren Teilnehmer sich in jedem Moment bewusst sind, Teil einer durch und durch theatralischen Darstellung zu sein.

Die Gemeinsamkeit der Rituale besteht darin, dass sie sich wie auf einer Bühne vollziehen. Auf ihr gilt es Haltung, Witz und Eleganz zu beweisen, das aber unaufdringlich und so, als wäre man bereits als eine interessante Kunstfigur zur Welt gekommen. Das höchste Ideal des Umgangs miteinander verbinden die Italiener mit dem nicht übersetzbaren Begriff der „Sprezzatura“. Er kam zur Zeit der Renaissance bereits in Umlauf und meinte: Leichtigkeit, Lockerheit – die Fähigkeit, selbst das Mühsamste so zu tun, als kostete es nicht die geringste Mühe und wäre ein geselliges Spiel.

Im Norden hat man diese enormen Tugenden oft für Lässigkeit oder Leichtfertigkeit gehalten, das sind sie aber ganz und gar nicht. Auf Raffaels Meisterwerk der „Schule von Athen“, jenem großen Fresko der italienischen Lebensformen in den Vatikanischen Museen, ist die „Sprezzatura“ in ihrer reinsten Form zu bewundern. Über zwanzig bekannte Gestalten der Weltgeschichte sind dort in ihre Gespräche vertieft. Leidenschaftlich widmen sie sich dem Disput und erweisen sich als Kenner eines bestimmten Metiers. Was sie vereint, ist die Freude an Philosophie, dem Klang der Worte sowie den Farben und Gesten der Mimik.

Nach meinem ersten römischen Aufenthalt habe ich immer wieder viele Monate in Italien verbracht und bin in seine „Schulen“ gegangen. Heute kann ich sagen: Sie haben einen anderen Menschen aus mir gemacht. Unglaublich. Aber wahr.