Das neue Hören und Sehen – die Herbstsaison beginnt

(Am 4. September 2020 auch als Kolumne im „Kölner Stadt-Anzeiger“, S. 4)

In diesen Tagen beginnt in den großen Konzertsälen die Herbstsaison. Die Berliner Philharmonie, die Elbphilharmonie in Hamburg und auch die Kölner Philharmonie öffnen endlich wieder die Pforten. Die Sitzreihen werden sich coronabedingt zwar nicht füllen, aber die Besucher werden endlich wieder Musik live zu hören bekommen.

Kein noch so bemühter Livestream ersetzt das Erlebnis einer leibhaften Präsenz von Menschen, an deren Spiel man als Zuhörer teilnimmt. Mehrere Monate lang war das nicht möglich, und so erhält die Begegnung mit Solisten und einem verkleinerten Orchester etwas von einer besonderen Premiere. Die Musik trifft auf ein Publikum, das ausgehungert ist wie nach einer zu langen Fastenzeit. Töne und Klänge wird man viel intensiver wahrnehmen als früher, und es wird zu Begegnungen mit Kompositionen kommen, die man selten oder noch nie in einem Konzertsaal gehört hat.

In der Kölner Philharmonie werden zum Beispiel am kommenden Sonntag (6.9.) morgens um 11 Uhr und mittags um 14 Uhr Strawinskys Klavierkonzert und die Metamorphosen von Richard Strauss geboten, und am Abend kann man eine Nacht der Dichterliebe erleben – und das keineswegs nur mit dem bekannten Zyklus von Robert Schumann, sondern flankiert durch Lieder von Fauré, Poulenc und Barber. Wäre ein solches Programm in früheren Zeiten möglich gewesen? Wohl kaum.

„Corona“ verändert nicht nur unsere Lebensgewohnheiten, sondern auch die Konzertprogramme und unser Hör- und Sehverhalten. Meine Freunde vermuten, dass sie in diesen Zeiten mehr von der Musik mitbekommen: Den Verlauf eines Stückes, die Kontraste und die Führung einzelner Stimmen. Die Musik wird „transparenter“ erscheinen, weil man nicht das große Orchester, sondern eher lauter Solisten in einem offenen Verbund erlebt. „Strukturelles Hören“, eine ambitionierte Forderung aus den Tagen Theodor W.Adornos, ist angesagt, und die Bedingungen dafür sind so gut wie noch nie.

Denn nicht nur die Transparenz kurzer Stücke wird die Konzentration des Hörens steigern, sondern auch die Konzertdauer. Viele Programme benötigen nicht mehr als eine Stunde, womit genau jene Grenze erreicht ist, die Musikpsychologen als mögliches Maximum konzentrierten Zuhörens ermittelt haben. Dauern Konzerte länger, verabschieden sich die Hörer oft nach dieser Frist, geraten ins Träumen oder schreiben im Kopf ihre Steuererklärungen, während sie eigentlich dem vierten Satz einer Brahmssymphonie folgen sollten.

Stattdessen also kürzere Stücke und verblüffende Programme – und um der Konzentration auch nicht die geringste Fluchtmöglichkeit zu bieten, sind auch die öden Pausen und das Anstehen am Bartresen gestrichen. Zum Glück, sagen viele meiner Freunde, die lieber eine Stunde intensiven Hörens als drei Stunden eines gestreckten Programms mit mindestens drei großen Stücken in bekannter Folge (Haydn – Mozart – Beethoven) erleben wollen.

Man darf daher sehr gespannt sein, wie sich Konzertprogramme in Zukunft gestalten. Vorerst wird man vor allem  Kompositionen hören, die einem bestimmten Aufführungsprofil und einer ausgetüftelten Besetzung entsprechen. Und nicht nur die häufig gehörten Stars werden auftreten, sondern vermehrt auch jüngere Musiker. „Vorhang auf!“ möchte man rufen, „schon lange haben wir uns nicht mehr so auf eine Konzertsaison gefreut!“