Im Chambre séparée des Le Moissonnier

Zum Mittagessen im Le Moissonnier. Seit 170 Tagen war das Restaurant geschlossen, nun trauen sich Liliane und Vincent Moissonnier wieder, Gäste zu empfangen. Man schlüpft mit Maske durch den bekannten dunklen Vorhang und steht in einem anderen Raum. Die vertrauten roten Lederbänke spielen Versteck, und das ockergelbe Jugendstildekor der Säulen bildet eine Hintergrundkulisse für die Plexiglas-Trennwände, die den Raum jetzt beherrschen. Dadurch hat er eine zusätzliche theatralische Note bekommen, und das Publikum benimmt sich entsprechend andächtig und ruhig.

Ja, in der Tat, die Stimmen der jetzt noch vierzig Gäste (sonst dürfen es über fünfzig sein) sind viel leiser als sonst, und die meisten sitzen zu zweit, unterhalb der großen Spiegel, in die kaum noch jemand hineinschaut, weil man die Trennwände zur Rechten und Linken als Rahmen eines kleinen Gehäuses empfindet, in das man sich für die Dauer der Mahlzeit vor der übrigen Welt zurückzieht.

Das neue Ambiente kommt all jenen Gästen entgegen, die sich vor allem an den servierten Speisen selbst erfreuen und weniger Wert darauf legen, vor den Besuchern an den Nebentischen durch auffälliges Gebaren zu glänzen. Hat man Platz genommen, die Maske abgelegt und den ersten Schluck frischen Mineralwassers genommen, erkennt man plötzlich, wo genau man sich befindet: In einem Chambre séparée!

Mein Gott, richtig, das ist es! Zu zweit sitzt man einander dicht gegenüber, gute Voraussetzungen, um das neue Séparée-Ambiente zu genießen. Man ist derart auf sein Gegenüber fixiert, dass man die Umgebung kaum noch bemerkt. Gastgeberin und Gastgeber Moissonnier kommen (woher eigentlich?) herangeschwebt und flüstern einige begrüßende Worte, und die freundlichen Helferinnen (die für ihre besondere, unauffällige Aufmerksamkeit bekannt sind) servieren wie Feengestalten, die sich aus einem fernen Reich den weißen Gestaden der schmalen Tische nähern.

Gibt es in der Nähe überhaupt noch eine Küche? Man hört davon jedenfalls nichts, und die Speisen von Meisterkoch Eric Menchon und seiner Truppe wirken im Chambre séparée noch um einiges erotischer als sonst. Zwei kleine Beispiele: Auf einem Kalbsfilet-Tatar liegt die hauchdünne Decke eines Birnen-Carpaccios, unterhalten von kleinen Haselnussstücken aus dem Piemont! Und – wenig später, die Offenbarung des Minimalen: Ein frittiertes Shizo-Blatt, gefüllt mit geschmortem Geflügel und überzogen von einem Buchweizenflair.

Wird das alles im normalen Sinn „gegessen“? Eigentlich nicht. Was aber dann? Zunächst erscheint es als leuchtendes Bild, das sich einprägt. Dann überlegt man, wie man sich nähert. Vorsichtig bitte! Mit Hilfe einer kleinen Gabel segmentiert man eine Probe, spürt den Bestandteilen nach, kostet erneut – und trennt sich für eine kurze Pause durch einen Schluck Wein (oder auch zwei).

Man isst ein Tatar also ebenso wenig wie ein gefülltes Shizo-Blatt, sondern lässt es durch behutsamen Umgang mit Besteck und Mund langsam verschwinden. Die Hauptrolle beim Verzehr spielen die Zunge sowie der Gaumen, während die Zähne rein gar nichts zu kauen haben. Der Schluck Wein ist die Begleitkomponente im geweiteten Mund, er durchwärmt die Speisen und verwandelt den Geschmack in Musik (ich könnte sogar genau sagen, in welche…).

Ich speiste und saß, bis ich der letzte Gast war. Und ich hätte, wäre es möglich gewesen, den Nachmittag hindurch weiter allein dagesessen, um zu schreiben und lesen (eine ideale Lektüre wäre ein Buch von Hartmut Kiltz: Das erotische Mahl. Szenen aus dem „chambre séparée“ des neunzehnten Jahrhunderts). Am frühen Abend hätte ich dann die Fortsetzung dieses Abenteuers verborgener Genüsse mit einer anderen, zweiten Person erlebt, und gegen Mitternacht wäre ich nach Hause gegangen.

Von Mittag bis Mitternacht – das wäre der Traum, und nur im Le Moissonnier lässt er sich träumen…