Eine neue Arbeitsmoral

(Gestern, am 2. November 2020, auch als Kolumne im „Kölner Stadt-Anzeiger“, S. 4)

Mein Freund Harald, von Beruf Ingenieur, ist mit seinem Sohn nicht zufrieden. Fragt er ihn, welche Zukunftspläne er hat, winkt er ab. Er will nichts „werden“ und denkt daher auch nicht an einen bestimmten Beruf. Stattdessen will er vor allem „leben“. Was aber soll das heißen?

Fragt man nach, erhält man lauter Antworten, die vor allem vieles ausschließen. So will Haralds Sohn zum Beispiel nicht immer dasselbe tun. Morgens früh aufzustehen und zur Arbeit zu eilen, um so etwas wie Karriere zu machen, ist ihm ein Graus. Er behauptet, mit wenig Geld auszukommen, und ist sicher, dass er dieses wenige Geld, wann immer er es braucht, auch irgendwie beschaffen wird. „Irgendwie!“ – das lässt meinen Freund Harald aufbrausen. Und wenn nicht – was dann? Soweit denkt sein Sohn angeblich nicht. „Genügend Geld ist immer da“, ist einer seiner Schlüsselsätze, und er trägt solche Weisheiten so gelassen und ruhig vor, als käme er gerade aus der Schule asiatischer Weisheitslehrer.

Früher war Arbeit ein geradlinig verlaufender, sich steigernder und die Ansprüche mit der Zeit erhöhender Prozess, der den ganzen Menschen forderte. Das Leben bestand aus dieser Arbeit, und daneben gab es „Freizeit“ und „Urlaub“, die mühsam erkämpft und teuer waren und gar nicht so selten langweiliger als alle Arbeit.

„Freizeit“ und „Urlaub“ beansprucht Haralds Sohn aber ebenso wenig für sich wie Arbeit. Er denkt nicht in solchen Kategorien, sondern will sich „dem Lebensprozess“ überlassen. Die Welt, die Zeit und die Dinge sollen etwas mit ihm machen, anstatt von ihm in die Hand genommen und nach festen Regeln geformt und gestaltet zu werden. „Alles ist im Fluss“ ist in Coronazeiten einer der Glaubenssätze, die er mit einem sanften Lächeln ins Spiel bringt, als hätte er eine tiefere Ahnung von geheimem Wissen.

Vor kurzem hat er sich um ein Stipendium für Nichtstun beworben, das von der Hamburger Hochschule für bildende Künste ausgeschrieben wurde. Auf dem Bewerbungsformular waren vier Fragen zu beantworten: Was wollen Sie nicht tun? Wie lange wollen Sie es nicht tun? Warum ist es wichtig, genau das nicht zu tun? Warum sind Sie der/die Richtige, das nicht zu tun?

Die Antworten fielen Haralds Sohn leicht: Er will nicht arbeiten. Er will es ein Leben lang nicht tun. Nicht zu arbeiten, ist wichtig, weil es den Blick auf die vielen interessanten Dinge des Lebens öffnet, die man sonst gar nicht zur Kenntnis nehmen würde. Natürlich ist er auch genau der Richtige, nicht zu arbeiten, weil er das verfügbare Vermögen des Vaters abschätzen und sich im Notfall darauf verlassen kann.

Die 1600 Euro, die für den Erhalt des Stipendiums gezahlt werden, möchte er seinem Vater schenken. Damit er als ehrgeizarmer Sohn eines ehrgeizigen Vaters erst gar nicht auf die Idee kommt, das Geld für sich arbeiten zu lassen. Das soll vielmehr der Vater tun: Es gut anlegen und vermehren. Notfalls könnte daraus irgendwann eine Stiftung entstehen: gemeinnützig und getragen von all jenen, die nicht wissen, wohin mit ihrem Geld.