Im siebzigsten Jahr wandert der Blick gar nicht so selten hinüber zu den mehr oder weniger Gleichaltrigen. Wie geht es Ihnen? Worüber schreiben sie? Wie erleben sie ihren runden Geburtstag?
So habe ich gerade das neuste Buch des Schweizer Schriftstellers Thomas Hürlimann gelesen, der vor kurzem siebzig Jahre alt geworden ist. In den letzten Jahrzehnten habe ich sein Schreiben aufmerksam verfolgt, sogar sein Debüt (Die Tessinerin. Geschichten. 1981) ist mir noch in guter Erinnerung.
Der Abendspaziergang mit dem Kater ist kein Gang am Abend eines Lebens, sondern ein Spaziergang in abendlicher Stimmung. Der rückwärtsgewandte Blick streift Herkunft, Familie, katholische Erziehung oder das Studium in Berlin.
Hürlimann erzählt von diesen großen Themen erkennbar autobiographisch, nie aber peinlich direkt oder gar faktenzentriert. Eher sieht er sich selbst als einen skurrilen „Fall“, dem er erzählerische Umkreisungen und Studien widmet.
Darunter sind besonders schöne über Steine, Treppen, Berge oder eine Berliner Madonna – begleitet von einem aus dem Nichts auftauchenden Kater, der auf anscheinend kaum erforschte Weise mehr von den Dingen und Atmosphären der Welt ahnt als der Erzähler.
Das Buch ist eine klug komponierte Anthologie von meist älteren Texten, von denen jeder einzelne vor dem Hintergrund einer Biografie einen weiten Erlebnis- und Denkraum aufspannt. Ich schlage vor, sie einzeln lesen, nicht unbedingt in der Reihenfolge der Sammlung, sondern nach Belieben, vielleicht auch am Abend, nach oder vor einem langen Spaziergang.
- Thomas Hürlimann: Abendspaziergang mit dem Kater. S. Fischer Verlag 2020