(Am 14. April 2021 auch als Kolumne im „Kölner Stadt-Anzeiger“, S. 4)
Begegne ich meinen Freunden, verlaufen die Gespräche auf den Straßen momentan sehr ähnlich. Bist Du schon geimpft? Nein? Wann bist Du dran? Und wo? Impfzentrum oder Hausarzt? Welcher Impfstoff?
Einer meiner älteren Freunde hat von seiner Impfung in der Hausarztpraxis berichtet. Noch nie hat er dort so viele gut gelaunte Menschen erlebt. Keine leidenden oder behandlungsbedürftigen Patienten, sondern solche, die sich auf die Impfung freuten und dafür dankbar waren.
Es habe eine fast ausgelassene Stimmung geherrscht, eine italienische Sprechstundenhilfe habe sogar mit Maske gesungen! Mein Freund fühlt sich befreit und erzählt davon, dass er sich jetzt anders bewege als früher. Natürlich weiter mit Abstand, Maske und Vorsichtsmaßnahmen, aber doch weniger ängstlich. Auch gedanklich habe er aus seiner engen Klause herausgefunden und nehme mehr wahr, sagt er, fast sei es so, als habe man ihm ein erweitertes Leben geschenkt.
Freunde, die in Bayern auf dem Land leben, melden trotz ihres Alters über Siebzig dagegen starke Verzögerungen. Die Hausärzte haben zu wenig Impfstoff, und die Impfzentren muss man alle paar Tage anrufen, weil sie oft behaupten, bestimmte Daten noch nicht richtig gespeichert zu haben. Sehnsüchtig denkt man an Berlin, wo bereits Menschen über Sechzig von den Behörden angeschrieben werden und einen Termin erhalten. So sollte es sein, sagen sie, umstandslos, ohne viele Anrufe, Termin melden und bestätigen, fertig.
Über die Nachwirkungen kursieren viele Gerüchte. Manche Geimpfte melden sogar bei Impfungen mit Biontech Pfizer Fieber und anhaltende Müdigkeit, die erst nach etwa zwei Wochen abzuklingen scheinen. Die meisten Freunde überhören so etwas aber und sagen: Hauptsache geimpft, egal mit welchem Mittel, selbst Sputnik V würden sie akzeptieren.
So erlebe ich alles in allem eine bisher in der Pandemie noch nie dagewesene Aufbruchsstimmung. Es geht voran, spätestens im Herbst haben wir das Schlimmste hinter uns – das ist der Tenor. Die Kehrseite besteht darin, dass erst vor kurzem fixierte gute Vorsätze bereits wieder in Frage gestellt werden. Könnte man nicht doch bald wieder weitere Strecken fliegen? Und eher früher als später eine längere Autoreise durch halb Deutschland planen? Im Saarland soll es besonders günstige Hotelangebote geben, und an Nord- und Ostsee sollen Ferienhäuser speziell für Großfamilien und Freundeskreise zu mieten sein.
So kommen die vertrauten, alten Zeitverläufe langsam wieder ans Tageslicht: Feiertage, Brücken, Urlaube! Die Pandemie hatte ihren eigenen Kalender geschaffen, mit erheblichen Beschränkungen und der Bindung an die täglich gegenwärtigen Nachrichten. Was möglich war, stand unter Vorbehalt und musste mit der Lebenswelt in der Umgebung abgeglichen werden. Jetzt dagegen sieht es so aus, als sprengten die Impfungen solche Fesseln und öffneten wieder ungeahnte Freiräume.
Ich gebe zu, dass ich weiter ein sehr mulmiges Gefühl habe. Der Blick meiner meisten Freunde ist auf Deutschland fixiert, die schlimmen Meldungen aus Brasilien, Indien, Tschechien oder Frankreich lassen sie an sich abperlen. Bald werden die Bewohner dieser Länder es auch gepackt haben, so reden sie sich die Zukunft schön. Wenn die Pandemie aber eines mit aller Wucht gelehrt hat, dann war es die Erfahrung des globalen Lebens. In China ist ein Sack Reis umgefallen, war mal ein abgestandener Internetwitz über belanglose Nachrichten. Heute zuckt man zusammen, wenn man so etwas liest.