Ich denke weiter über Nomadland nach, es geht jetzt um die Entstehungsgeschichte des Films. Was ist daran interessant und zeittypisch?
Dem Film liegt ein Sachbuch der Journalistin Jessica Bruder (Nomadland: Surviving America in the Twenty-First Century) zugrunde. Auf dieses Buch wurde die spätere Hauptdarstellerin des Films (Frances McDormand) aufmerksam. Sie kontaktierte die Regisseurin (Chloé Zhao) und schlug ihr vor, aus dem Stoff einen Film zu machen, in dem sie eine zentrale Rolle (die der Hauptfigur Fern) übernehmen wollte.
Diese Konstellationen der Entstehung sind selten. Der Film hat zunächst kein Drehbuch, sondern bezieht sich auf das thematische Ausgangsterrain eines Stoffs: Nomadisch lebende Menschen, meist allein unterwegs in den weiten Landschaften der USA. Darin besteht der dokumentarische Anteil des Films, der durch die späteren Laiendarsteller als Präsentation nicht fiktiver, sondern realer Menschen gesichert wird.
Fiktiv sind aber die biografischen Konstellationen der weiblichen Hauptfigur Fern, die vor dem Hintergrund eines persönlichen Scheiterns verschiedene Stationen ihrer Lebensgeschichte aufsucht. Diese fiktive Element führt und leitet durch den Film und bindet die nicht fiktiv konzipierten anderen Darsteller an seinen roten Faden.
Das Bezeichnende und Zeittypische besteht darin, dass die fiktive Geschichte nicht zentral, sondern das Leitungselement für einen dokumentarisch entwickelten Stoff ist. Die Regisseurin benutzt die Fiktion als Folie, vor der sich die Geschichten der anderen Darsteller in authentischer Weise abzeichnen. Genau daraus bezieht der Film seine starke Wirkung. Er verdrängt die Fiktion zugunsten eines „ehrlich“ erscheinenden Anspruchs eines prägnanten Themas.
Das sagt einiges aus über die gegenwärtige Rolle der Fiktion. Viele Regisseure und Schriftsteller halten ihre Dominanz für überholt. Angesichts der großen Krisen der Welt erscheint sie als zu schwach, um starke Inhalte in Szene zu setzen. Um das zu tun, greifen die Künste auf das reale Leben zurück und verwandeln seine Sprachen. Medial – so wenig wie möglich inszeniert.
Darauf wollte ich unbedingt hinweisen. Die überall sich bemerkbar machenden Spuren des Nicht-Fiktiven werde ich weiter verfolgen. Sie sind eminente Zeitzeichen…