(Am 5.1.2022 auch als Kolumne im „Kölner Stadt-Anzeiger, S.4)
Am Silvesterabend hatte ich mit Freunden das Silvesterkonzert in der Kölner Philharmonie besucht. Das Gürzenich-Orchester spielte Musik mit französischen und spanischen Wurzeln, und hinterher fühlten wir uns ein wenig, als wären wir im Süden Europas unterwegs. Wir zogen durch die Nacht und hatten vor, hier und da für ein Kölsch einzukehren, aber wir taten es dann doch nicht, sondern gingen weiter und weiter, in kleiner Runde. Es war ungewöhnlich warm, fast vorfrühlingshaft, das ließ uns weiter an den Süden glauben, und die spanisch inspirierte Musik ging uns nicht aus dem Kopf, sondern wollte an die frische Luft. Dann summte einer von uns eine Weile vor sich hin, und die anderen machten mit.
Ich erzählte von dem Buch eines Schriftstellers, in dem ich in letzter Zeit oft gelesen hatte. Es heißt Gehen allein unter Menschen und ist von dem Spanier Antonio Muñoz Molina. Auf über fünfhundert Seiten erzählt er von seinen Wegen durch große Städte, durch Madrid, Paris oder New York, immer allein, aber keineswegs einsam. Es ist ein Gehen in Gesellschaft der Zeichen, Dinge und Menschen ganz in der Nähe, ohne etwas wissen zu wollen, einzig konzentriert auf das Sehen und Hören. Der leise Abendwind, das Pfeifen der Schwalben, die visuelle Polyphonie der Buchstaben und Sätze an den Häuserwänden und hinter den Schaufenstern – das animiert den Spaziergänger, der kein Ziel kennt, sondern sich treiben lässt.
Mit der Zeit nimmt die Umgebung einen immer freundlicheren Charakter an – auch wir bemerkten es, als wir in den Norden der Stadt zogen und anderen Gruppen begegneten, die oft grüßten und sich auf Mitternacht vorbereiteten. Sie standen lose an den Straßenecken herum, saßen auf den Bänken der Plätze in Nippes, tranken Kölsch und unterhielten sich gedämpft, als fürchteten sie, in eine frühere Ausgelassenheit zurückzufallen. Die aber war nirgends spürbar, das Grüßen wollte kein Ende nehmen, und wir begriffen, dass es den vielen herumziehenden Scharen dazu diente, sich ihrer Zusammengehörigkeit in einer seltenen Silvesternacht zu vergewissern.
Selbst das Herunterzählen des Countdowns war nicht hörbar, sondern ging im Sausen der Raketenblüten unter, die über der lang gezogenen Neusser Straße bunte Strahlenbilder in das Himmelsdunkel zauberten. Nach Mitternacht nahm die allgemeine Entspanntheit noch zu, was mich an Formulierungen des Essayisten Daniel Schreiber erinnerte, der in seinem Buch Allein von der Kraft auch schwacher sozialer Bindungen geschrieben hatte. Solche oft täglich erhaltenen Impulse, die wir gemeinhin unterschätzten, hätten eine „Brückenfunktion“ und führten im Alltag unserer Städte im Idealfall zu einer „umsichtigen Freundlichkeit“.
Ich verstand gut, was er gemeint hatte, die umsichtige Freundlichkeit ist eine besondere Kölner Errungenschaft, die viele Fremde verblüfft und erstaunt, wenn sie sich die ersten Tage in unserer Stadt aufhalten. Natürlich hütete ich mich, davon in der Silvesternacht zu sprechen, das hätte nicht gepasst. Ich spürte aber, dass der Gedanke daran mich zu Beginn des Neuen Jahres optimistisch stimmte, und als ich später las, dass selbst Karl Lauterbach das Ende der Pandemie nicht mehr für unmöglich halte, hätte ich am liebsten gleich mit ihm angestoßen. Unverbindlich natürlich, aber doch hoffnungsfroh.
Die Krönung von alldem bescherte das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker. Daniel Barenboim dirigierte, und kurz vor dem Ende sprach er ein Grußwort. Er redete von der Schönheit eines Orchesters, das im Grunde ein Gemeinschaftskörper einander zugewandter Menschen sei. Jedes Instrument eine Eigenheit, und alle zusammen miteinander verbunden zu Klangcharakteren! Solche Bilder und Erlebnisse könnten uns helfen, einander nicht als Gegner, sondern als Teil einer Gemeinschaft zu verstehen. Wenn die an ihr orchestrales Dasein glaube, werde die Pandemie bald überwunden sein! Meine Freunde und ich saßen bewegt vor dem Bildschirm, und es dauerte eine kleine Weile, bis der erste von uns sagte: „Also denn, Prost Neujahr!“