Die Auslöfflerin

Die Charaktere des griechischen Dichters Theophrast sind schon seit langem eine meiner Lieblingslektüren. In ihnen wurden zum ersten Mal in der europäischen Literatur einzelne Typen des sozialen Lebens genau beobachtet und „charakterisiert“.

Ich folge Theophrast manchmal und schreibe Erzählungen , die sich an seine Manier anlehnen:

Die Auslöfflerin

Sie kocht gerne und lädt ihre Freundinnen einmal in der Woche zum Essen. Schon die Vorbereitungen der Mahlzeiten machen ihr Spaß: Das Einkaufen auf dem Markt, die Gespräche mit den Verkäufern über die Herkunft der Waren, die Unterhaltungen über Rezepte und Gerichte.

Sie besitzt eine beträchtliche Sammlung von Kochbüchern, für jede geliebte Region mindestens eines. Rheingau, Südtirol, Graubünden und Burgund sind die Favoriten, deren Gerichte sie um die passenden Weine ergänzt.

In der Küche legt sie die Zutaten in Reih und Glied längs und quer aus und mustert sie lange vor den ersten Kochaktionen.

Sie lässt eine Musik laufen, die zu den Gerichten passt und sie animiert. Die Klänge haben einen Bezug zur jeweiligen Region und komplettieren das angestrebte Fest für alle Sinne um das Hören.

Bevor sie mit dem Kochen beginnt, macht sie Fotografien der ausgelegten Waren, sie drapiert Gemüse und Obst zu kunstvollen Stillleben und verleiht den Fischen einen besonderen Glanz durch Licht aus den Strahlern der Decke. Hühner, Enten und Gänse erhalten jeweils ein großes Silbertablett für den Schlummer vor ihrer Zubereitung.

Sie summt leise vor sich hin und wird etwas lauter, als sie die Schrankfächer öffnet und das Küchenbesteck herausholt. Während der Kochvorgänge spielt es eine herausragende Rolle, und wer sie heimlich beobachten würde, könnte glauben, dass es sogar die Hauptrolle spielt.

Jedenfalls ist sie in bestimmte Werkzeuge (wie etwa Grillpinzetten, Pfannenwender oder Küchenzangen) verliebt und sorgt dafür, dass jedes einen eigenen Auftritt erhält. „Jetzt kommst Du dran“, flüstert sie lüstern und spickt eine Kartoffel sanft mit der Kartoffelgabel auf, bevor sie mit dem Spatel ein Pfannengericht lüftet.

Wenn die Freundinnen erscheinen, ist alles auf die Minute präpariert, und es gibt Vorspeise, Hauptgang und Dessert. Nicht zu viel, sondern jedes Mal etwas anderes.

Während der Mahlzeit hält sie sich mit dem Essen zurück. Sie hat zuvor häufig gekostet und längst keinen Appetit mehr. Die Freundinnen wissen Bescheid und sprechen sie darauf nicht an.

Statt zu essen, trinkt sie recht viel, drei oder auch vier Gläser Wein und eine ganze Flasche Wasser fast allein.

Ist die Mahlzeit beendet, verabschiedet sie sich für eine halbe Stunde. „Tut mir leid, meine Lieben“, sagt sie jedes Mal, „ich möchte kurz aufräumen, gleich bin ich wieder bei Euch.“

In der Küche räumt sie aber keinen Moment auf. Sie schaut vielmehr tief in die Töpfe, Kessel und Schüsseln und taucht einen kleinen Senflöffel in die Restsubstanzen der übrig gebliebenen Saucen.

Sie löffelt sie aus, geduldig und passioniert. „Das ist einfach das Beste“, flüstert sie und gibt den Saucen gut klingende Namen.

Als sie die Küche verlässt und zu den Freundinnen zurückkehrt, fühlt sie sich wunderbar gesättigt. „Ah, wie gut!“ sagt sie leise und fährt mit der Zunge noch einmal über die schmalen Lippen, die sie gerade mit den Wundern des späten, vollendeten Genusses bekannt gemacht hat.