Mittelstreckenläufer unter sich

Mein Patenkind Lisa und ihr älterer Bruder sind zu Besuch und genießen ihre Ferien. Wenn die beiden mich besuchen, muss ich die Tage anders angehen als sonst. Lisa und ihr Bruder bleiben nämlich nicht gerne im Haus, sondern bewegen sich viel, draußen, auf den Feldern oder in den Wäldern, wo niemand im Weg ist. Sie bewegen sich schnell und ungewohnt turnerisch, auf Bäumen, geduckt im Unterholz, meist komme ich nicht hinterher.

Das macht aber nichts, denn ich sage es immer schon kurz vor unserem gemeinsamen Aufbruch: „Macht Euch auf den Weg, ich komme etwas langsamer hinterher.“ Damit ist vorerst alles gesagt, und dann lege ich mich ins Zeug und versuche, einen letzten, verdampfenden Rest von Sportlichkeit in meinem Körper zu entdecken.

Lisa und ihrem Bruder fällt natürlich auf, dass es mit meiner Sportlichkeit nicht weit her ist. „Hast Du mal so richtig Sport gemacht?“ hat Lisa mich einmal gefragt, und ich musste nachdenken. Dann kam ich aber doch drauf: „Ja, habe ich. Und das war seltsam.“ – „Wieso seltsam?“ fragte Lisa. – „Weil ich Sport nur in einem kurzen Abschnitt meines Lebens getrieben habe. In Wuppertal, in den ersten Gymnasialjahren.“ – „Und warum da?“ – „Weil ich aufs Gymnasium gekommen war und die Mitschüler dort sehr sportlich und ehrgeizig waren. Immer liefen, rannten, turnten und spielten sie um die Wette, das Leben war ein einziger Sport. Und daneben lernten sie Latein und Altgriechisch und waren auch da so ehrgeizig, wie Du es Dir nicht vorstellen kannst.“

„Hast Du mal irgendwas gewonnen?“ fragte Lisa. – Ich musste wieder nachdenken. „Ja“, sagte ich, „zumindest in meinen Augen. Es war bei den Bundesjugendspielen, die fanden im Stadion am Zoo statt. Am Ende sollten wir tausend Meter laufen, aber nur die Schüler, die sich das zutrauten. So zum Spaß. Ohne Vorbereitung. Einfach mal probieren.“ – „Und da hast Du gewonnen?“ – „Nicht ganz“, sagte ich, „aber doch fast. Ich bin nämlich wirklich die tausend Meter gelaufen. Zum ersten Mal in meinem Leben, ich habe es einfach versucht. Vor mir kamen einige ältere Schüler aus anderen Klassen ins Ziel, ich wurde nur Vierter. Als Vierter war ich aber der Jüngste von allen Läufern. Darauf war ich einige Zeit mächtig stolz.“ – „Toll“, sagte Lisa, „das war bestimmt ein schöner Moment, als Du ins Ziel kamst.“ – „Und wie! Vor allem auch wegen der Mitschüler, denen hatte ich es einmal gezeigt. Sie saßen im weiten Rund des Stadions, liefen selbst nicht, feuerten mich aber an. Ich glaube, mein  Lauf hat sie alle überrascht, sie hatten mich vorher wohl für eine läuferische Null gehalten. Plötzlich war ich ein Mittelstreckenläufer – auf einmal, aus dem Nichts.“

Die Geschichte geht mir in diesen Tagen häufiger durch den Kopf. Mit Lisa und ihrem Bruder durchquere ich die Landschaft, und am Abend schauen wir uns die Leichtathletinnen und Leichtathleten in München an. Wir sind voller Bewunderung und fiebern mit Gina Lückenkemper (100 Meter) und Niklas Kaul (Zehnkampf), und manchmal kommt es mir so vor, als wäre ein Rest des Mittelstreckenläufers noch in mir vorhanden und keineswegs gänzlich verdampft.

Gina Lückenkemper und Niklas Kaul haben nämlich völlig überraschend gewonnen, auf einmal, aus dem Nichts – und die Anfeuerung des weiten Stadionrunds war phänomenal. Ich sehe Fernsehen, als regte sich eine identifikatorische Praxis, das ist richtiggehend zu spüren. (Was ist das aber – „identifikatorische Praxis“…? Ich werde noch genauer drüber nachdenken.)

Heute Abend bin ich (identifikatorisch) mit unter den Mittelstreckenläufern. Um 21.05 Uhr starten sie über 1500 Meter. Der Norweger Jakob Ingebrigtsen ist der große Favorit. Und fast gleichzeitig wird nebenan Malaika Mihambo weitspringen. Mit einem Sprung von 6,99 Meter hat sie sich für das Finale qualifiziert. Was für ein Abend!