Der Teilchenbeschleunigte

Heute, am 28.10.2022, veröffentlicht der „Kölner Stadt-Anzeiger“ (S.4) eine Textprobe aus meinem neuen Buch „Charaktere in meiner Nähe“.

Der Teilchenbeschleunigte

Der Teilchenbeschleunigte lebt von Push-Nachrichten, die er sich von so vielen Anbietern und zu so vielen Anlässen wie möglich schicken lässt.

Trinkt er mit Freunden ein Bier, reagiert er ununterbrochen und wie elektrisiert auf fast jede eingehende Meldung: „Der FC führt gerade 1:0… – Bertas Zug hat sieben Minuten Verspätung… – Das Klavierfestival Ruhr beginnt nächstes Jahr einen Monat früher als sonst…“

Die eingehenden Nachrichten rasen durch seinen Kopf, stauen und überschlagen sich – und machen ihn im Extremfall mundtot: „Hey, Leute, tut mir leid, ich bin momentan übertaktet.“

Er kann den Blick nicht vom Display seines Mobilgeräts abwenden. Ist er unterwegs, bleibt er manchmal stehen, um kurz Luft zu holen und „sich zu sortieren“.

Darüber, wie er das anstellen könnte, denkt er seit langem ohne konkrete Ergebnisse nach. Twittern bietet sich an, aber er betreibt es nur notgedrungen, ohne dass sich das Empfinden des Sortierens ergäbe.

Fragt man ihn, warum er sich solche Belastungen antut, antwortet er: „Ich gehe mit der Zeit, präzise, Moment für Moment, ich erlebe die Zeit wie einen Rausch. Nur Tiefseetauchen ist besser…“

Seine Freunde und Freundinnen wählt er nach dem Neuigkeitswert ihrer Nachrichten aus: „Die besseren nutzen Apps, von denen selbst ich noch nichts gehört habe.“

Erkundigt man sich, welche Meldungen er ignoriert oder als überflüssig betrachtet, antwortet er sofort: „Kulinarischer Kram interessiert mich nicht im Geringsten, auch Nachrichten über alles, was riecht, duftet oder sich sonstwie verfusselt, gehen mich nichts an.“

In stilleren Momenten spricht er davon, wie er sich in den letzten Jahren verändert hat: „Ich esse anders, trinke anders, gehe und laufe anders. Mein ganzer Kreislauf arbeitet anders, aber ich bin nie mehr allein, so wie früher, das nicht!“

Feste Verabredungen mag er nicht mehr: „Auf sowas kann ich mich nicht einlassen. Mache ich irgendwo mit, bekomme ich laufend zu lesen, wo ich stattdessen mitmachen könnte. Das hält kein Mensch aus…“

Ab und zu versteckt er sich in einer Kirche: „Dominus mecum!“