Die Atmosphären Chopins

Der polnische Pianist Rafał  Blechacz  hat gerade eine CD mit Kompositionen von Frédéric Chopin vorgelegt. In der FAZ vom 6. März 2023 ist ein längeres Gespräch mit ihm darüber erschienen, welche biografischen und atmosphärischen Prozesse der Einspielung vorausgegangen sind.

Tiefergehend wird dieses Gespräch (mit Jan Brachmann) dadurch, dass Blechacz nicht nur als Pianist, sondern auch als promovierter Philosoph spricht. Ihn beschäftigen daher Fragen wie die, was ein musikalisches Kunstwerk von Werken anderer Künste unterscheidet und wie die besondere Eigenart in einer Aufführung oder Einspielung zur Geltung kommt.

Zunächst einmal ist das musikalische Werk eine Partitur, also eine Tonschrift. Jedes Üben und Spielen aktualisiert sie und bringt sie mit den psychischen Tiefenschichten und Erfahrungen des Spielenden zusammen. In herausgehobenen Zeiten kann ein bestimmtes Werk besonders anziehend wirken, wenn seine Klangbilder ein inneres Erleben abrufen, das durch die Zeitläufte geweckt wurde.

Blechacz hat zum Beispiel bemerkt, dass seine Erfahrungen der Pandemie (und der mit ihr verbundenen Dunkelheiten wie Tod oder Vergänglichkeit) ihn dazu drängten, Chopins zweite und dritte Klaviersonate einzuspielen. Seine Auffassung dieser Stücke habe sich gegenüber früheren Interpretationen erheblich vertieft.

Solche Interpretationen seien jedoch nicht immer und überall abrufbar. Blechacz glaubt vielmehr, dass sie mit einzigartigen Atmosphären in einem Konzertsaal und den Stimmungen des anwesenden Publikums zu tun haben. So könne er sich an Konzerte erinnern, die ihn selbst überrascht und in dem Glauben bestärkt hätten, dass ein Werk eine bestimmte Atmosphäre gefunden habe, in der sich seine Existenz vollende.

Ich habe das Gespräch mit Rafael Blechacz auch deshalb besonders aufmerksam gelesen, weil ich diesen Glauben teile. Konzertbesuche können ganz und gar einzigartige Ereignisse sein, wenn Interpreten und Publikum auf eine nicht geplante, sondern geradezu geheimnisvolle Weise zusammenkommen.

Blechacz nennt sie Momente von „metaphysischer Qualität“. Ja, solche Momente gibt es, und genau wegen dieser Momente können Konzertbesuche unvergessliche, prägende Erlebnisse sein. (Warum werden sie aber kaum zureichend beschrieben? Die Konzertkritik umkreist sie in den seltensten Fällen und sucht oft hilflos genug nach einem passenden Vokabular.)