Eine Geschichte der Welt

Vor nun schon einigen Jahren fragte der Verlag C.H.Beck den Historiker Ewald Frie (dessen gerade erschienenes Buch Ein Hof und zehn Geschwister ich bereits am 12.04.2023 in diesem Blog vorstellte), ob er Lust habe, eine Geschichte der Welt für eine junge Leserschaft zu schreiben. Ewald Frie hatte Lust, aber als er sich an die Arbeit machte, erkannte er (wie er in seinem Nachwort schreibt) rasch, welche Hindernisse sich auftaten.

Das begann schon damit, dass viele Bücher, die er unbedingt lesen wollte, in Sprachen geschrieben waren, die er nicht beherrschte. Das setzte sich fort mit der Frage nach den historischen Zäsuren, die es erlauben würden, bestimmte Zeitabschnitte als Einheiten in den Blick zu nehmen. Wie aber ließen sich Zeitabschnitte finden, die in den verschiedensten Kulturen der Welt gleichzeitig oder höchstens zeitversetzt aufgetreten wären?

Um dieser Frage zu entgehen, hatten manche Wissenschaftler sich an einem einzigen Ort und zu einer bestimmten Zeit wie in einem Loch eingegraben oder niedergelassen, um von dort aus nach Vernetzungen mit anderen Regionen und Zeiten zu forschen. Dann ergaben sich Weltgeschichten „mit einer umfassenden Kontextualisierung einer mikroskopisch ansetzenden Untersuchung“ – so hatte der Historiker Wolfgang Drews dieses Erzählformat beschrieben. Auf diese Weise waren Weltgeschichten von Dingen, Motiven oder Verhaltensformen entstanden. Sie konnten eine Art Vorbild für eine neu erzählte Weltgeschichte sein, halfen letztlich aber nicht, eine solche als Gesamtentwurf vieler Geschichten zu schreiben.

Ewald Frie erinnerte sich an die „Standarderzählung von Geschichte“, mit der er selbst und seine Kinder in der Schule aufgewachsen waren: Sie begann im Zweistromland und führte über das Alte Ägypten, Griechenland und Rom zielstrebig ins Mittelalter, die Neuzeit und unsere bekannten „Modernen“. Sie hatte zentral Europa und Deutschland im Blick, und sie behandelte Geschichte wie eine Folge von Kulturen, die sich folgerichtig aufbauten, entwickelten und allmählich verblassten, um sich in nachfolgende zu verwandeln.

In Abgrenzung von dieser noch immer geläufigen, „glatt“ erscheinenden Großerzählung „entstand die Idee, die Geschichte wie einen chaotisch gewebten Teppich zu begreifen, bei dem Muster erkennbar sind, der aber zugleich von Löchern und Rissen durchzogen ist. Es gibt nicht nur unzusammenhängende Geschichten, sagt das Bild, sondern eine Geschichte. Die Dinge hängen zusammen, nicht regellos (dann würde der Teppich zerfallen), aber auch nicht regelmäßig (dann wäre er zu schön, um wahr zu sein).“

Aus dieser grundsätzlichen Annahme ergaben sich Folgerungen: „Weil die einzelnen Stellen (des Teppichs, HJO) genau betrachtet werden, sind wir in der Lage, etwas von der Eigenlogik einer Zeit und eines Ortes zu erfassen, selbst wenn wir sprachlich und kulturell entfernt bleiben. Wenn wir den Verbindungen von einem Ort aus nachgehen, können wir die Eigenzeit jedes Ortes und die Reichweite seiner Zäsuren bestimmen.“ (Ewald Frie, S. 457)

Mit Hilfe dieses genialen Konzepts hat Ewald Frie Die Geschichte der Welt neu erzählt (illustriert von Sophia Martineck), C.H.Beck. Er beginnt nicht in Europa, sondern bei den ersten Menschen in Afrika, springt nach Babylon und zu den Handelsnetzen des Indischen Ozeans, findet über Indien und China ins Alte Byzanz. „Amerika!“ erscheint erst auf S. 287, gefolgt vom alten Japan, auf S. 331 taucht Berlin am Horizont auf, gefolgt von Sankt Petersburg.

So liest er die Geschichten der Welt nicht nur wie einen Teppich, sondern ist auch auf einem fliegenden unterwegs, indem er die Regionen der Welt überfliegt und hier und da abtaucht, um sie vor Ort zu studieren. Wohin verweisen sie, wohin entwickeln sie sich? Welche Linien, Rituale, Lebensformen und Schicksale sind vom jeweiligen Raum her erkennbar?

Das alles erzählt er jugendlichen Leserinnen und Lesern wie eine weit ausholende, spannende und durchaus abenteuerliche Sammlung von Geschichten, die auch die älteren überraschen und begeistern werden, weil sie von ihnen ebenso wenig wissen und ahnen wie die jungen.

Entstanden ist ein Buch für uns alle, ich habe es jetzt gelesen, leider viel zu spät, aber vielleicht gerade noch „rechtzeitig“.