(Am 16.06.2023 auch als Kolumne im „Kölner Stadt-Anzeiger“, S. 4)
Die großen Ferien beginnen, wir starten jetzt in den Süden Italiens und laden einen Experten ein, uns zu begleiten. Es ist Volker Wissing, Minister für Verkehr und Digitales, nebenbei auch stolzer Besitzer eines Weinguts und in älteren Zeiten Landesminister für Weinbau in Rheinland-Pfalz. „Kennst Du das Land?“ rufen wir dem Minister zu, und er winkt beflissen gleich ab. Na klar, kennt er, Goethe, das berühmte Italiengedicht, wegen dessen atemraubend werbenden Zeilen viele Deutsche in den kommenden Wochen nach Italien fahren. Ins Land, wo die Zitronen blühn und die Goldorangen glühn, alles klar.
Wir starten in Südtirol, wo man auf den Autobahnen 110 km/h fährt, ein ruhig und zivilisiert dahingleitender Strom von vielen deutschen Autofahrerinnen und Autofahrern begleitet uns, viele winken dem Minister zu, den Wein- und Obstplantagen zu beiden Seiten geht es gut, auch deshalb, weil keine Raser unterwegs sind.
„Tempolimit, Herr Minister!“ sagen wir laut und deutlich, und Volker Wissing blickt abwesend aus dem Fenster, prüfend, ob auch genug Verkehrsschilder vorhanden sind, die darauf hinweisen. Vor einiger Zeit hat er einen Tempolimitversuch unterbunden, weil man dafür lauter neue Schilder aufstellen müsste und es eine solche Menge an Schildern in Deutschland eben nicht gebe. In Südtirol gibt es nur ab und zu welche, denn es braucht sie erst gar nicht, weil alle Fahrenden seit langem schon wissen, dass man auf diesen Autobahnen nicht schneller als 110 km/h fährt. Daran halten sie sich mit Vergnügen und Freude, und die wenigen Wichtigtuer, die unbedingt ihren Wagen ausreizen müssen, werden einfach ignoriert.
Wir biegen auf die Autostrada del Sole ein, schon der Name macht uns kribbelig und erinnert an die schönsten Tage an den südlichen Stränden. Auf der ganzen Strecke gilt nun ein Tempolimit von 130 km/h, und selbst der letzte, von Canzoni aus dem Autoradio besoffene Porschefahrer hat begriffen, wie schön es sein kann, eine Flotte von Fiats nicht laufend zu überholen, sondern in ihr mitzugleiten.
„Merken Sie, wie 130 km/h sich anfühlen?“ fragen wir den Minister, und er schaut wieder aus dem Fenster, wo die kultivierten Agrarlandschaften des Landes mit ihren dunkelgrünen Weinbergen vorbeigleiten, es ist ein Genuss, so in Gesellschaft mit vielen Genießern zu fahren. „Es geht nicht ums Energiesparen“, sagen wir weiter, „sondern um den zivilisatorischen Fortschritt. Wer 130 km/h statt 230 km/h fährt, beweist, dass er Landschaften zu erleben weiß, anstatt sie wie bloße Kulissen für einen Egotrip zu misshandeln.“ Minister Wissing denkt noch etwas nach, dann öffnet er ein Fenster und sendet ein kurzes Lächeln ins Freie.
„130 km/h“, sagt er nachdenklich, „das würde einen Keil in unsere Gesellschaft treiben.“ – „Im Gegenteil“, antworten wir, „es würde unsere Gesellschaft von einem nervenden Thema befreien und dazu beitragen, dass endlich wieder elegantere Autos gebaut würden. Keine aufgeplatzten, breitbeinigen Konservendosen mit Heckplomben, sondern schlanke und schmale Gleiter, derer man sich nicht zu schämen bräuchte.“
Es wird still, die Sonne scheint untermalend, „ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht“, flüstern wir, und der Minister scheint zu begreifen, dass Goethe mit dieser Zeile den Wunsch nach einem Tempolimit vorweggenommen hat. „Kennst Du das Land?“ heben wir noch einmal beschwörend an, „wo die Myrte still und hoch der Lorbeer steht?“ Minister Wissing hat zu kauen, es entgeht uns nicht. Zeit, den letzten Stich zu platzieren: „Kennst Du es wohl? Dahin! Dahin, möcht ich mit Dir, o mein Minister, ziehn.“