„Mütter, Väter und Täter“ von Siri Hustvedt

Nicht häufig, aber manchmal geschieht es eben doch, dass mich ein gerade erschienenes Buch derart für sich einnimmt, dass ich es nicht nur mit viel Begeisterung lese, sondern der fremde Text während der Lektüre in mir bereits zu schreiben beginnt. Was ist da los?

Die Lektüre trifft auf einen inneren Nerv, der private Erinnerungen und Assoziationen speichert, die auf unheimliche, kaum nachvollziehbare Art abgerufen werden. Dann entsteht während des Lesens ein eigener Text, an den ich nie gedacht und den ich nie geplant hatte.

Es handelt sich anscheinend um eine „Übertragung“ seltsamster Art. (Ich denke später einmal länger darüber nach …)

Jetzt geht es aber erstmal um die neue Essaysammlung Mütter, Täter und Väter von Siri Hustvedt (Rowohlt-Verlag, aus dem Englischen von Uli Aumüller und Grete Osterwald). Im Falle der Essaybände von Siri Hustvedt ist es mir fast immer passiert: Das innere Schreiben begann, ich hätte schreiben können, viel schreiben…

Im aktuellen Fall geriet ich zu Beginn an einen autobiografischen Essay, in dem Siri Hustvedt von ihrer Großmutter väterlicherseits erzählte. Darauf wanderte ich mit ihr an den Atlantik, begleitete sie bei einem langen Spaziergang, den sie mit ihrer Mutter unternahm, erlebte sie bei der Vorstellung ihrer literarischen Mentoren und besuchte mit ihr die Frick-Collection in New York, um mich an ihrer Seite dem Bild Der heilige Franziskus in der Wüste von Giovanni Bellini zu nähern: „Das Kunstobjekt bewegt sich in den verschiedensten Formen in vielen Körpern fort, und es spricht und schreibt und singt in vielen Sprachen. Es ist ein Lebewesen.“ (S. 287) – hatte ich von genau dieser Wirkung von Kunstwerken nicht gerade in meinem neuen Buch „Kunstmomente“ erzählt?

Vielleicht, aber um solche Überschneidungen geht es nicht nur. Die autobiografischen Essays von Siri Hustvedt beschäftigen mich deshalb, weil sie auf zwei Ebenen erzählt werden. Zunächst als Geschichten und Erinnerungen, dann aber auch als Reflexionen über die in den Geschichten und Erinnerungen hintergründig anvisierten Themen. Solche Themen sind etwa: Mutterschaft, Familie, literarische Leitbilder, Kunstverständnis.

Die autobiografische Erzählung switcht immer wieder hinüber in reflektierende Teile, in denen auch Fach- und Sachliteratur zu den jeweiligen Themen zitiert und erläutert wird. Das macht die Erzählungen reicher, weitet sie und lässt einen als Leser an weiterführenden Diskursen teilnehmen, deren Motive im Kopf sofort Aufstellung nehmen.

Und schon bin ich auf den Seiten 435-440 (Zitierte und verwendete Literatur) und lege eine kleine Liste der Titel an, die Siri Hustvedt gelesen hat und für die Lektüre empfiehlt.

Muss ich noch hinzufügen, dass ich nun wiederum ihre Essaysammlung Mütter, Väter und Täter sehr empfehle?

Nein, muss ich natürlich nicht. Aber ich könnte etwas auf Abstand gehen und meine Empfehlung neutraler formulieren. Etwa so:

In ihren neuen Essay-Sammlung veröffentlicht die Schriftstellerin Siri Hustvedt Texte mit sehr unterschiedlichen Themen, die alle dadurch glänzen, dass sie eine meist autobiografische Erzählung zu einem Reflexionskabinett erweitern.

So erzählt sie passioniert von ihren Vorfahren, ihrer Familie, Spaziergängen mit ihrer Mutter, ihrer literarischen Arbeit, Leitfiguren oder meditativen Momenten in einem Museum. Die Texte prägen sich tief ein, weil sie Motive und Themen berühren, die vielen Menschen ein Leben lang durch den Kopf gehen oder sie sogar verfolgen.

Siri Hustvedt untersucht und schildert sie mit nachdenklichem Gestus, ohne sich in private, allzu intime Zusammenhänge zu verlieren. Jeder Text steht für sich und eröffnet ein Zeitfenster eigener Art, und wenn man alle Essays gelesen hat, ist man mit Siri Hustvedt als einer umsichtigen und lebenserfahrenen Frau unterwegs gewesen, um mit Ihr Zusammenhänge des Lebens zu erforschen, die uns nie so deutlich gewesen sind wie nach dieser Lektüre.