Die Neunziger Jahre von Jens Balzer

Ich mag Zeitreisen in vergangene Jahre oder Jahrzehnte, die ich selbst miterlebt habe. Jens Balzer ist Experte für dieses Genre, er hat schon Bücher über die Siebziger- und Achtzigerjahre geschrieben, jetzt sind die Neunziger dran.

Gelungene Zeitreisen rufen keine Daten oder sich wichtigtuerisch aufspielende historische Ereignisse ab, sie sezieren vielmehr das Lebensgefühl einer Epoche und denken darüber nach, wie und wodurch es entstanden ist. Woran erinnert man sich als erstes?

Natürlich an die deutsche Wiedervereinigung, die das Jahrzehnt so Glück verheißend eröffnete. Dann an „Techno“ als deren „Soundtrack“ und das bald einsetzende Aufkommen der neuen Rechten. Mobiltelefone führten zu einem „pausenlosen Telefonieren“, Amazon, Ebay und Google starten, und das „Internet wird zum Massenmedium“. Im TV laufen die Simpsons, und ein Minister streift die Turnschuhe über und begibt sich auf den langen „Weg zu sich selbst“.

Jens Balzers Buch ist gut zu lesen, es zieht einen hinein in die temporären Stoffe und entkleidet sie ihrer früheren momentanen Aufdringlichkeit. Sie haben sich in uns abgesetzt, und beim Lesen dieses Buchs, das wie ein panoramatischer Film wirkt, erwecken wir sie wieder zu einem zweiten Leben, indem wir die Zeichen und Signale am besten in kleiner Runde den Erinnerungsinseln der Gehirne zuführen. Und schon beginnen die Geschichten und wollen nicht mehr aufhören: „Weißt Du noch? Erinnerst Du Dich?“

  • Jens Balzer: No Limit. Die Neunziger – Das Jahrzehnt der Freiheit. Rowohlt Berlin 2023