Imagine peace!

(Heute auch als Kolumne im „Kölner Stadt-Anzeiger“, S. 4)

Die Schauspielerin Sandra Hüller hat den Europäischen Filmpreis als beste Hauptdarstellerin erhalten. Bei der festlichen Preisverleihung in Berlin bat sie das Publikum mit den Worten „Imagine peace!“ um eine Minute des Schweigens und der Stille. Stellt euch vor: Frieden! Und das mitten im Advent!

Was für ein schöner, sinnvoller Einfall, der weit über die bloße Nennung des Wortes hinausging. „Imagine“ fügte ihm die Erinnerung an die 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts hinzu, als die Sehnsucht nach Frieden noch eine Sache für Hunderttausende auf den Plätzen und Straßen unserer Städte war. „Imagine“ appellierte aber zugleich auch an die Zukunft und daran, sich eine Zeit jenseits der furchtbaren gegenwärtigen Kriege in der Ukraine und in Nahost auszumalen. Wie könnte ein Frieden aussehen, der mit dem Ende dieser Kriege einherginge?

Schließlich forderte „Imagine“ dazu auf, die inneren Bilder verwüsteter Städte und Landschaften durch Szenen mit all jenen Menschen anzureichern, die sich einmal daran machen werden, zerstörtes Leben wieder aufzubauen. Von wo werden sie kommen und wie lange werden sie brauchen, den Gegenden wieder ein menschliches Aussehen zu verleihen? Im Wunsch nach Frieden sollten sich, so die gegenwärtige Sehnsucht, die kämpfenden Lager einig sein. Und sollte diese Sehnsucht wieder so mächtig werden wie früher einmal, könnte sie viele Konfrontationen überwinden – zugunsten eines übergeordneten, vorrangigen und größeren Ziels.

Als ich mit meinen Freunden darüber sprach, hatten sie sofort Bilder der „Friedensbewegung“ vor Augen und fragten sich, warum es momentan nur kleinere Kundgebungen im Namen dieser oder jener kämpfenden Seite gibt, aber keine Großdemonstrationen für den Frieden. Nur laute, nationale oder Partei ergreifende Parolen, Fahnen und Embleme, aber keine leisen Zeichen des Friedens und der Hoffnung, dass der Wunsch nach Frieden die Feinde einander wieder annähern könnte.

In unseren Gesprächen verbanden wir diese schönen Träume mit alten Adventsfantasien, die in den Kindertagen immer auch Fantasien einer Friedenszeit waren. Im Advent kam das laute, konfrontative Leben allmählich und schrittweise zur Ruhe, bis die Feiertage gar einen Stillstand aller Umtriebigkeit bewirkten. In diesen stillen Momenten reichten sich Menschen und Gruppen die Hand, die sonst aneinander vorbeigeeilt waren, bis hin zu den Begegnungen mit den eigenen Verwandten, denen wir während des Jahres eher aus dem Weg gegangen waren. In diesem Sinn sind Advent und Weihnachten Feste übergeordneter, höherer Ordnung, die dazu aufrufen, das gemeinschaftliche Leben weiter zu denken und in gefassterem Geist zu feiern.

So bedurfte es auch jetzt nur eines einzigen Wortes, um eine ganze Palette von Bildern und Erzählungen abzurufen und damit zu verhindern, dass wir die Feiertage nur als willkommene Ablenkung von den Kriegsbildern betrachten. Emotionsforscher sagen uns momentan, dass Angst und Trauer große Kreise unseres Landes beherrschen und sich in diese starken Empfindungen kaum Spuren von Freude mischen. Meine Nächsten sprechen davon, sich um diese lebenserhaltende, adventliche Freude zu bemühen und sich ihrer nicht zu schämen. Dies alles aber nicht in „eitel Freude“, sondern auch im Bewusstsein der Trauer. Beide Emotionen aufeinander zu beziehen, dazu könnten Sandra Hüllers wegweisende Worte beitragen: „Imagine peace!“