Er betritt die Bühne des Konzertsaals mit kurzen Schritten, ohne nach rechts oder links zu schauen, er hat nur den offenen Flügel im Blick, vor dem er Positur bezieht und sich zweimal verbeugt. Er nimmt Platz und beginnt sofort mit dem Spiel, als wäre dem Flügel ein Warten oder eine erste vorsichtige Berührung nicht zuzumuten. Schlagartig tut sich der Klang auf, als entstehe die Komposition gerade in diesem Moment, im Kopf eines Menschen, der sie befragt und ihr zuhört.
Einmal in einem Konzertjahr schmiedet er ein Programm, mit dem er dann in der halben Welt auf Tournee geht. Alles ist genau überlegt, jede Komposition lässt die vorangegangene hinter sich und nimmt Anlauf von vorn. Meist beginnt er mit scheinbar einfachen Stücken aus dem Übungsrepertoire der Meister, die ihren Klavierschülern kleine technische Aufgaben stellten. Dann behandelt er den Flügel wie ein Klanginstrument und entlockt ihm winzige Koloraturen, Triller und Treppenläufe. Die Töne schwirren im Halbkreis und halten sich in einem intimen Studioraum auf, in dem Grigory Sokolov als Tonmeister die Regie übernimmt.
Ist das wirklich von Bach? Oder von Purcell? – fragen sich viele im Publikum und bemerken an sich selbst eine starke Irritation. Denn Ton für Ton wird die staubige Patina des Vertrauten abgetragen, und darunter erscheinen die verästelten Strukturen der Stücke, die nicht von Bach oder Purcell sind, sondern der Studierstube des in sie versunkenen Pianisten entstammen, dem das Publikum Schritt für Schritt folgt. Von den kurzen Klavierübungen geht es weiter zu Zyklen mit französischen, italienischen oder deutschen Tänzen, die Welt mischt sich ein, denn die Stücke erhalten nun die Farben einer Umgebung.
Große Pause. Was macht wohl der Meister, fragt sich das fassungslose Publikum, dem sein Sektgläschen aus den Händen gezaubert wurde. Darf man sich auf Chopin freuen oder auf Schumann? Der Meister hat längst die Linien gezogen, und als er mit den Mazurken Chopins weitermacht, ist Frédéric jung wie nie, der Salon wird geschlossen, und er komponiert, wie er zuvor noch nie komponierte. So wird Chopin zu seinem eigenen Schüler, und Sokolov dankt kurz und beobachtet, wie eine Mazurka entsteht und jede für sich bleibt, ohne dem Publikum den Gefallen zu tun, Chopin zu träumen.
Ein Zyklus Robert Schumanns bildet den Abschluss, und wenn man ihn hört, ist vollends klar, dass Sokolovs Spiel ein Schumann-Spiel ist. Es deckt die Purismen und Umbrüche in den Stücken auf, als kämen sie aus Robert Schumanns Moderne, der sie in seiner Zeitschrift für Neue Musik gerade in Worten umkreiste. Bach, Purcell, Chopin erhalten im Nachhinein eine neue Würde, es ist die unantastbare ihres Eigensinns, fern von Barock, Romantik oder sonstiger Klassik und sehr nahe den Kinderzimmern Schumanns, in denen die jungen Menschen zu Schülern werden und lauschen.
So sieht ein Sokolov-Programm aus, fürs Erste. Dann aber zieht der Meister den Vorhang zu und verschwindet für eine kleine Wanderung durch die weitere Welt. Sechs Zugaben folgen, und das Publikum gerät in Ekstase: Was spielt er da? Ist das Bach, Rachmaninow oder Skrjabin? Vergebens das Fragen, es wird nie erraten, was es zu hören bekam, es muss sich bescheiden. Sokolov hat es gehört, darauf einigt man sich, und als sich die große Gemeinde nach mehreren Stunden auf den Weg nach Hause macht, kommt ihr die Welt so vor, als habe sie allen Tand abgelegt und ihren schönsten Ernst wiedergefunden.
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