Nach dem Rückzug von Joe Biden aus dem Kampf um das Präsidentenamt fällt mir bei Gesprächen mit meinen Freunden auf, wie wenig wir für gewöhnlich von den USA wissen und wie fern und fremd die Meldungen von den politischen Gegebenheiten oft wirken. In Windeseile wird aus einer angeblich farblosen Vizepräsidentin eine siegesgewiss lachende Kandidatin gezaubert, die den aufs Altenteil verwiesenen Präsidenten doppelt alt aussehen lässt.
Dass sie in nur wenigen Tagen zig Millionen Spendengelder für die Unterstützung ihrer Kandidatur gesammelt hat, irritiert, wirkt es doch so, als entscheide sich die Präsidentenwahl vor allem durch die Unmengen an Geldern, die für Werbung und Gott weiß was ausgegeben und in die Welt gestreut werden. Wer diese Gelder zuschießt und ins Rennen wirft, erfahren wir meist nicht und haben daher auch keinen Eindruck davon, um welche Machtkämpfe es in den Lagern der Lobbyisten momentan geht.
In dem riesigen Land kämpfen nur zwei große Parteien um die Wählerinnen- und Wählergunst. Von den politischen Trends und Strömungen in diesen Parteien bekommt man hierzulande kaum etwas mit, sie bleiben ebenso im Hintergrund wie die Namen von Senatorinnen und Senatoren oder die der Entscheidungsträger im Repräsentantenhaus. Was wir stattdessen aber laufend mitbekommen, sind die kleinen Dramen gesundheitlicher Diagnostik oder die offensichtlichen Verrücktheiten eines Kandidaten, der alles tut, um die sozialen Medien Tag für Tag mit Abfall aus seinem Schreckenskabinett zu füttern.
Überhaupt wirkt die Berichterstattung über die USA oft so, als ginge es vor allem um die Reize dieser oder jener Performance, orientiert daran, welche Drehbücher sich daraus für die Zukunft filtern lassen. Wer hat gelacht oder geweint, wer bedient jene „emotionalen“ Wirkungen, nach denen jetzt auf allen Kanälen fieberhaft gefahndet wird. „Emotional“ ist das aktuelle Stichwort der Saison, das dem gelangweilten Publikum eine Herzspritze verpassen soll. Emotional ist ein Abgang vom Amt, emotional ist aber auch ein Abschied vom Tennissport, Hauptsache die Meldung enthält ein paar rührende Komponenten, die zumindest einen halben Tag in Erinnerung bleiben.
Die ernsthafteren, über die Zukunft entscheidenden politischen und sozialen Themen gehen dadurch oft unter. Wie steht es zum Beispiel um die für den 5. November angesetzten, wegweisenden Wahlen? Dass die wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürger den Präsidenten nicht direkt wählen, sondern Wahlmänner bestimmen, erstaunt viele meiner Freunde. Die Regelung erscheint wie ein Rest althergebrachten aristokratischen Misstrauens gegen die Demokratie, als könnte man es dem Volk nicht überlassen, die für passend Gehaltenen selbständig und selbstbewusst zu wählen.
Dass die Wahlwilligen sich außerdem für die Wahl registrieren lassen müssen und das notwendige Prozedere in den fünfzig Bundesstaaten nicht überall dasselbe ist, lässt ebenfalls aufhorchen. Es soll sogar Bundesstaaten geben, in denen nur Briefwahl möglich ist. Die üblicherweise niedrige Wahlbeteiligung erklärt sich wohl auch durch solche merkwürdigen Hürden.
Im Vordergrund des öffentlichen Interesses könnte neben dem Kennenlernen dieser Eigentümlichkeiten auch ein tiefergehendes Interesse daran stehen, dass mit der möglichen Wahl von Kamala Harris zur Präsidentin nicht nur ein Generationenwechsel, sondern auch eine Umschichtung der relevanten Zukunftsthemen verbunden wäre. Die Erleichterung, die viele meiner Freunde spürten, als sie diese Chance witterten, war unverkennbar.
Statt des egomanen Trump-Trubels könnten Themen wie Emigration, Rechte der Frauen, Bekämpfung der Armut, Klimaschutz, Sicherheit und Verteidigung oder soziale Gerechtigkeit endlich wieder nach vorne rücken. Darauf nicht nur kluge und differenzierte Antworten zu geben, trauen meine Freunde der weltoffenen Kamala Harris zu. Das könnte mit einem neuen Politikstil verbunden sein: Statt der Abgabe von Erklärungen aus dem Orkus der Hinterzimmer eine lebendige und demokratische Diskussion von Programmen und der Überzeugungskraft ihres Für und Wider.