Sommerliches Gespräch mit Gottfried Benn

„Meinen Sie Zürich zum Beispiel/sei eine tiefere Stadt,/wo man Wunder und Weihen/immer als Inhalt hat?“ –  fragte mich in diesen sommerlichen Tagen (da die meisten Freunde im Urlaub und auf Reisen gegangen sind) der Dichter Gottfried Benn. – „Ja, Gottfried, das meine ich“, gab ich zur Antwort, „Zürich halte ich für einigermaßen tief, und Wunder und Weihen könnte ich auch sofort benennen: St. Galler Kalbsbratwürste, die Kronenhalle, den Zürcher See, die Tonhalle, das Arbeitszimmer von Thomas Mann im Thomas-Mann-Archiv der ETH Zürich … – lauter Wunder und Weihen!“ – „Kenne ich leider alles nicht“, sagte Gottfried Benn. – „Könnten Sie aber kennenlernen, wenn Sie meinen Roman Das Verlangen nach Liebe lesen würden. Er spielt nämlich in Zürich, an vielen Plätzen dieser Wunder und Weihen.“ – „Interessant“, meinte Gottfried Benn, „wir werden sehen. Vorläufig halte ich mich aber noch an meine althergebrachten Sommerregeln!“ – „Und die wären?“ – „Ach, vergeblich das Fahren!/Spät erst erfahren Sie sich:/bleiben und Stille bewahren/das sich umgrenzende Ich.“ – „Schön gedichtet, Gottfried“, sagte ich, „und durchaus überzeugend! Weswegen ich mich jetzt auch in eine asiatische Sommerstille zurückziehen werde, um es zu suchen: das sich umgrenzende Ich!“ …