Eine Gedankenübertragung besonderer Art

Manche Kompositionen höre ich immer wieder, und es fehlt mir etwas, wenn ich sie eine Weile nicht gehört habe. Die meisten sind Stücke für Klavier solo, auf viele habe ich auch bereits in diesem Blog hingewiesen.

Nun aber ist eine neue CD der Pianistin Khatia Buniatishvili erschienen (Labyrinth), deren Konzerte und Aufnahmen ich seit vielen Jahren genau verfolge.

Was soll ich sagen?! Es muss sich um eine Gedankenübertragung handeln, denn sie spielt wahrhaftig lauter Stücke, die ich mir gewünscht haben könnte: Die Gymnopédies von Erik Satie, Vocalise von Sergej Rachmaninoff, Les Barricades Mystérieuses von François Couperin, eine Sonate von Domenico Scarlatti, mehrere Flüsterstücke von Johann Sebastian Bach und und und…

Was ist da bloß passiert? Es muss sich um eine Art Gedankenübertragung handeln, anders kann ich es mir nicht erklären. In diesen Tagen, in denen man angehalten wird, Kontakte zu reduzieren, scheinen sich andere Kontakte zum Glück auf geheimnisvolle Art zu vertiefen…

Ein kleines Wunder! Bitte unbedingt hören – ein stilles, intimes Fest!

Ein „Buch der Stunde“

Heute stellt die SWR-Redakteurin Leonie Berger in SWR 2 am Samstagnachmittag mein gerade erschienenes Buch In meinen Gärten und Wäldern in einer klugen und kenntnisreichen Besprechung als ein „Buch der Stunde“ vor.

Hier ihre Rezension:

https://www.swr.de/swr2/literatur/hanns-josef-ortheil-in-meinen-gaerten-und-waeldern-100.html

Wer die Sendung live hören will, kann das ab etwa 14.30 Uhr, dann erlebt er zusätzlich auch meine kurze Lesung eines Ausschnitts („Das Mirabellenblütenfest“), die in der Online-Version nicht erscheint.

(Eine kleine Korrektur des Beitrags möchte ich noch anfügen: Ich bin kein „emeritierter“ Professor an der Universität Hildesheim, sondern weiter als Seniorprofessor für das dortige Literaturinstitut tätig…)

Eine Botschaft für Frau Merkel

(Am 30. Oktober 2020 auch als Kolumne im „Kölner Stadt-Anzeiger, S. 4)

Guten Tag, Frau Merkel, ich melde mich aus meiner einsamen Klause: Häuschen, Garten und ein Stückchen Wald. Ich bin gesund, ich habe die neusten Beschlüsse zur Kenntnis genommen und handle entsprechend.

Der Morgen beginnt mit einem Blick auf das Alpenpanorama von 3sat, minutenlange Bilder von Alpengletschern und weiten Tälern. Der Wilde Kaiser, das Nebelhorn. Kein Mensch ist zu sehen, kein Tier, keine Bewegung, selbst die Sessellifte stehen still – das ist ein wunderbarer Auftakt für den weiteren Tag, an dem nichts so sehr geboten ist wie das Vermeiden von Kontakten oder intensive Bewegung.

Ich tröste mich mit dem Blick auf die hochaktiven Eichhörnchen, sie planen den Winter und sammeln momentan eine unvorstellbare Zahl von Nüssen und anderen Delikatessen. Ich selbst vermeide Delikatessen, schon das Wort ist mir fremd geworden, lieber gehe ich in mich gekehrt und selbstverständlich allein durch den Garten, ernte Äpfel, Birnen und Quitten und verspeise sie morgens, mittags und abends.

Ich denke nicht mehr daran, meine nächsten Kreise längere Zeit zu verlassen, schon bei der bloßen Vorstellung sehe ich Sie vor mir, wie Sie ihr strenges Pokerface aufsetzen oder genervt mit den Augen rollen. Wenn Sie Putin, Trump oder Boris Johnson begegnen, lassen Sie diesen Merkelroller kreisen, ich träume bereits davon, und wenn ich einen Schritt hinaus ins freiere Leben mache, begleitet er mich, und ich blicke verschämt zu Boden. Wie konnte ich nur daran denken, mich mit meinen Freunden zu treffen? Wie kam es mir bloß in den Sinn, meinen baldigen Geburtstag fröhlich und in großer Runde zu feiern?

Ich werde natürlich darauf verzichten, liebe Frau Merkel, ich werde allein bleiben, nur meine Frau wird mir als einzige Live-Gratulantin ein Ständchen singen. Nein, sie wird mich nicht umarmen, auch einen Kuss ersparen wir uns. Wir werden sprachlos durch die herbstlichen Wälder tappen und schnüffelnden Hunden ebenso ausweichen wie kinderreichen Familien. Sollte es uns dennoch für ein Stündchen zum Einkauf in die Stadt verschlagen, werden wir unser markantes Maskendeutsch intonieren: Knappe Ansagen, keine Adjektive und Verben, Ausrufezeichen nach jedem Substantiv!

Hehre Mutter des Landes, ich werde gehorsam sein und mich so wenig regen wie möglich. Das ferne Leben werde ich über Webcams verfolgen und mir den Angsttraum eines Grabsteins verbieten, auf dem stehen könnte: „Er war mit allem einverstanden.“

Beethoven 5

Das Beethovenjahr geht auf sein Ende zu. Mitte Dezember wird man seinen 250. Geburtstag feiern. Auf dieses Datum möchte ich (nach mehreren Blogeinträgen in diesem Jahr) abschließend hinführen – durch einige weitere Vorschläge, sich mit diesem gewaltigen Musikkontinent zu beschäftigen. Bewusst wähle ich Verblüffendes, wenig Bekanntes, das noch einen starken Überraschungscharakter hat:

Ludwig van Beethoven ist neunzehn Jahre alt, als er sich – noch in seiner Geburtsstadt Bonn – eine Kompositionsaufgabe stellt: Ein kurzes musikalisches Motiv durch alle Dur-Tonarten zu führen. So entstehen zwei Präludien (op. 39), hier geht es um die Nr.1.

Die folgende Videoprojektion macht den Wechsel der Tonarten gut nachvollziehbar. Man hört (und sieht), wie Beethoven die verschiedenen Tonarten charakterisiert, welches Tempo er für sie wählt und wie er insgesamt jeweils mit einer bestimmten Tonart umgeht und ihr zu einem eigenen Ausdruck verhilft.

So gehört (und gesehen) erlebt man ein Kompositionstraining als Hörtraining.

Viel Vergnügen!

Thomas Oppermann ist gestorben

Gestern erfuhr ich, dass Thomas Oppermann, Vizepräsident des Deutschen Bundestages, unerwartet und plötzlich in Göttingen gestorben ist. Von 1998 bis 2003 war er in Niedersachsen Minister für Wissenschaft und Kultur. In dieser Zeit spielte er in meinem Leben eine wichtige Rolle, denn er war es, der mich auf eine Professur an der Universität Hildesheim berief.

Ich erinnere mich noch genau an den Moment, als ich auf einer Autobahnraststätte einen plötzlichen Handy-Anruf von ihm erhielt. Dabei fragte er mich, ob ich bereit sei, diese Professur zu übernehmen und den Studiengang „Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus“ weiter zu entwickeln und zu profilieren. Ich sagte sofort zu.

Nach meiner Berufung hat er mich dann und wann erneut angerufen und mit mir über diese Aufgabe gesprochen. Er war ein kluger, sensibler und humorvoller Politiker mit einem starken Interesse an Literatur und den Künsten, so dass jedes Gespräch viel mehr war als eine blosse Information über universitäre Angelegenheiten. Bis zu seinem Tod habe ich ihn immer im Auge behalten, so, wie man einen alten, sympathischen Bekannten im Auge behält, mit dem man sich irgendwann wieder treffen und unterhalten wird.

Er hatte mitgeteilt, dass er nicht erneut für den Bundestag kandidieren und aus politischen Ämtern ausscheiden werde. Wie gerne hätte ich ihn in Göttingen wiedergesehen, um nicht nur über das Hildesheimer Schreibinstitut, sondern über viel mehr zu sprechen. Ich werde mich mein Leben lang an unsere Gespräche erinnern.

Herbst – in meinen Gärten und Wäldern

Der Baumhimmel der Äste und Zweige schüttelt sich in den herbstlichen Wettern und flieht zu Boden, wo er sich zu dicht gewebten Teppichen ausbreitet, in Erwartung der graueren Tage.

Die Saat der Flut – jedes Blatt eine Nuance verblassender Farbe, aufeinander geschichtet zu einem späten Tanz, der im Regen und in der zunehmenden Kälte der Tage langsam abnimmt und in den dunklen Erdtönen versiegt.

Nachts leuchten diese Szenen noch einmal auf, als zündeten die glimmenden Wirbel dieser späten Kombinationen einen kaum erwarteten Spuk. Dann beginnen die Stunden der wispernden Geister, die sich brütend und schwer mit dem Atem der Erde verbünden und darüber wachen, dass niemand die Ruhe der Szenen stört.

(Das Buch In meinen Gärten und Wäldern ist gerade erschienen, dieser Text aber ist neu und wird irgendwann in einer erweiterten zweiten Auflage auftauchen.)

Bin ich etwa (auch) ein japanischer Schriftsteller?

In früheren Zeiten haben viele Dichter und Schriftsteller sich an fernen Kulturen orientiert, die sie oft weder gesehen noch (in heutigem Sinn) tiefer erforscht hatten. Johann Joachim Winckelmanns Griechenland ist ein gutes Beispiel. Seine epochemachenden Worte von der „edlen Einfalt und stillen Größe“ griechischer Kultur hatte er vor allem nach dem Studium von Kopien griechischer Plastiken in Rom erfunden, sie waren die ästhetische Grundformel für den Klassizismus und die Griechenlandbegeisterung, die deutsche Dichter, Philosophen und Forscher in den folgenden Jahrhunderten weiter entwickelten (ich denke an Goethe, Hölderlin, Nietzsche und viele andere).

Neben Griechenland waren es vor allem Italien und Frankreich, um die solche kulturellen Fernfantasien kreisten. Da diese beiden Länder von Deutschland aus nicht so schwer zu erreichen waren, galten ihnen zumindest längere Exkursionen, die das freie Fantasieren dann mehr oder minder fundiert erweiterten.

Schon seit einiger Zeit habe ich die seltsame Vermutung, dass ich selbst eine starke Ferneuphorie für das empfinde, was ich unter der alten japanischen Kultur zu verstehen glaube. Ich war nie in Japan, und ich kenne diese Kultur auch nicht aus längeren Abhandlungen. Es sind eher einige wenige Texte, die mich sehr faszinieren und beschäftigen: So etwa Matsuo Bashōs Reisetagebuch Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland oder – noch stärker – Sei Shōnagons Kopfkissenbuch. Daneben habe ich nach der Lektüre des Japanbuches von Roland Barthes (Das Reich der Zeichen) die Vorstellung entwickelt, an seiner Seite in Japan gewesen zu sein.

Dass ich mit meinen inneren Bildern und Fantasien, vor allem aber auch mit bestimmten Formen meines Sehens, Denkens und Handelns in einem imaginären Japan lebe, wird mir im kommenden Jahr auch der Japanische Taschenkalender für das Jahr 2021 bestätigen. Er wird mich animieren, die Jahreszeiten mit den Augen der japanischen Haikumeister im Umkreis von Matsuo Bashō zu sehen. Woche für Woche werde ich ein auf die jeweiligen Jahreszeiten bezogenes Haiku lesen, dessen tieferer, für uns Europäer unzugänglicher Sinn sich vor allem dadurch erschließt, dass der Japanologe Ekkehard May es eingehend und verblüffend erläutert. Hinzu kommen schließlich noch Zeichnungen aus der Japan-Sammlung des Metropolitan Museums in New York, die den Text verlebendigen.

Eingefügt in diese Text-Bild-Natur-Rhythmen sind außerdem auch leere Seiten, die sich zum eigenen Notieren eignen. Das habe ich mir immer gewünscht: Ein altjapanisches Wander- und Dichterleben zu führen und es (handschriftlich) im Verlauf eines ganzen Jahres zu dokumentieren. Schon in etwa zwei Monaten geht es los, der Kalender liegt bereits auf meinem Arbeitstisch…

Ilex – in meinen Gärten und Wäldern

Meine Eltern kannten die Namen der Pflanzen, Sträucher und Bäume in unseren Westerwälder Gärten genau. Fragte ich danach, erhielt ich meist eine Auskunft, konnte mir die Namen aber oft nur unvollständig oder in kindlich veränderter Version merken.

„Ilex“ dagegen war ein Name, den ich nie vergaß, denn er passte genau zu dem leuchtend-gefährlichen Rot der in dichten Trauben versammelten kleinen Früchte und den dornigen, aufflammenden Zacken der ledrigen Blätter.

Ich wagte nie, sie zu berühren, aus Angst, gestochen oder vergiftet zu werden, ja, selbst die Vögel hätte ich am liebsten gewarnt, auf keinen Fall von ihnen zu kosten.

Dabei gefiel mir ihr Leuchten doch sehr, und ich musste in den herbstlichen Tagen oft hinschauen: auf den Kranz der grellgrünen Blätter mit ihren fein ausgemalten, hellen Umrandungen und auf die Nestfülle des Rot, das sich so lange hielt und selbst bei kälteren Temperaturen nicht vergehen wollte.

„Ilex“ war für mich der Name einer magischen Pflanze, die etwas Märchenhaftes hatte und zu Schneewittchen passen würde: Stechend und schwere Blutstropfen vergießend, die das Rot der Früchte mit einem nachdunkelnden Ton überzogen hätten.

(Das Buch In meinen Gärten und Wäldern ist gerade erschienen, dieser Text aber ist neu und wird irgendwann in einer erweiterten zweiten Auflage auftauchen.)

Lydia Davis erzählt

Seit einigen Jahren erscheinen die Stories der amerikanischen Schriftstellerin Lydia Davis im Droschl Verlag – und ich kann sagen, dass ich jede Neuerscheinung sofort gelesen habe und beinahe zwanghaft mit den Augen von Lydia Davis durch die unheimlichen Welten unseres Alltags gewandert bin.

Erzählt wird von vielen kleinen, unauffälligen Dingen und manchen großen Gefühlen, die aber nicht laut oder dominant ausbrechen, sondern von einer klugen Erzählerin meisterhaft im Zaum gehalten werden. Sie macht das mit äußerster Raffinesse, jede Story ist ein singulärer geschliffener Murmel, der einem vor die Füße kollert, die Schieflagen des Fußbodens auslotet und in einem vorher nie gesehenen schwarzen Loch verschwindet.

So erlebt man fasziniert mit, auf wie eigene und noch nie so gelesene Weise man einen Erzählstoff behandeln und formen kann. Nach der Lektüre jeder Erzählung bin ich aufs Neue verblüfft: So geht das also auch, so elegant und originell!

Legt man das Buch beiseite, friert es einen ein bißchen, und man überlegt, was sich hinter dem minimalen Riß in der Tapete alles verbergen könnte.

Lydia Davis: Es ist, wie’s ist. Stories. Aus dem Amerikanischen von Klaus Hoffer. Literaturverlag Droschl